Die Tochter der Dirne
lehnte es ab, sich oder seine Gefühle zu verbergen.
Als sie auf die Gruppe der Maskierten am Ende der Halle zuging, folgte er ihr mit seinem Blick. Nun, da sie wusste, dass er sie beobachtete, bemerkte sie, dass unter Agnes’ Kostüm ihre Knöchel zu sehen waren und es ihr um die Hüften zu weit war. Sie kehrte ihm den Rücken zu und berührte ihre Kapuze, um sicherzugehen, dass ihr Haar bedeckt war. Eine einzige schwarze Locke würde genügen, um sie zu verraten.
Der Herold des Königs bat um Ruhe, und sie widmete ihre Aufmerksamkeit dem lebenden Tableau. Wie ein Spiegelbild stellte die Szenerie den König dar, der sie beobachtete. Ein falscher König saß auf einem nachgebauten Thron. Himmlische Wesen in Blau umgaben ihn, wilde Tiere lagerten sich ihm zu Füßen.
Als sie ihren Platz einnahm, schien ihr der Hof ebenso Fassade zu sein wie dieses Spiel, schön an der Oberfläche, doch die wahre Natur jedes Mitspielers blieb verborgen. Während sie am Fuße des falschen Throns kniete und den Applaus hörte, fragte sie sich, welcher Mitspieler wohl das Gewand von Agnes’ Liebhaber trug.
„Aufstehen. Jetzt“, flüsterte jemand hinter ihr.
Die anderen Spieler gingen ins Publikum und zogen einige der Zuschauer mit sich auf die Szene. Als Solay aufstand, um es ihnen gleichzutun, erspähte sie durch die Schlitze in der Kapuze ein dunkelblaues Gewand. Um sie herum gesellten sich lachende Frauen und Männer zu dem hübschen Bild und stellten sich auf wie Statuen. Sie hatte Angst, aufzusehen, dann sah sie eine Hand, umfasste sie und zog.
Bei der Berührung schienen ihre Finger zu verschmelzen. In diesem Moment gab es nichts, das sie trennte.
Er zog seine Hand weg, weigerte sich, nicht mit dem gutmütigen, kurzzeitigen Widerstreben der anderen, sondern mit entschlossener Kraft.
Sie beging den Fehler, aufzusehen.
Unter den dichten Brauen hervor begegnete er ihrem Blick. Es gab keinen Zweifel. Es war Lord Justin, und er erkannte sie.
Sie drehte sich um und streckte beide Hände aus, um zwei Höflinge neben ihm mit sich zu ziehen, versuchte zu entkommen. Während der falsche und der echte Hof sich vermischten, applaudierte der König, und einige der Verkleideten zogen die Masken ab.
Im Schutz des falschen Throns floh Solay in die Halle. Der Darsteller des Königs ging ebenfalls fort, immer noch maskiert, allerdings in die entgegengesetzte Richtung.
Sie hatte schon beinahe die Treppe erreicht, als Lord Justins Stimme sie zurückhielt.
„Ihr nahmt nicht wie die anderen Eure Kapuze ab, Lady Solay.“
„Ihr irrt Euch.“ Sie hielt inne und wandte sich zu ihm um. Vielleicht würde ein kunstvoll gerolltes „r“ ihn irreführen. „Ich bin ein weißer Hirsch, fromm und rein.“
„Ihr seid weder fromm noch rein, und Euer Akzent klingt nicht wie der von Lady Agnes.“
Sie senkte den Blick, sodass ihre Wimpern die Leinenkapuze streiften, noch immer in der Hoffnung, zu verbergen, wer sie wirklich war.
Zu spät. Er nahm ihr die Kapuze ab, ließ das falsche Geweih zu Boden fallen, umfasste ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Sie waren dunkel vor Ärger – und von noch etwas anderem.
Sie spürte seinen Atem an ihrer Wange. „Und die Augen von Lady Agnes sind nicht von königlicher Farbe.“
Ihre Lippen öffneten sich, und sie versuchte, Luft zu atmen, die nicht nach ihm duftete.
Er beugte sich näher, sodass seine Lippen die ihren beinahe berührten. Es fehlte nicht viel, und er hätte sie geküsst.
Doch dann ließ er sie los und hielt ihr die Kapuze entgegen. „Nein, Ihr seht nicht aus wie ein Hirsch.“
Sie entriss ihm die Kapuze. Noch immer atmete sie viel zu schnell. Was nutzte sie jetzt noch Lady Agnes? „Fandet Ihr nicht, dass ich die Rolle gut gespielt habe?“
Er wischte sich die Handflächen ab, als wollte er die Spuren ihrer Berührung beseitigen. „Wie es scheint, ist das ganze Leben ein Spiel für Euch, eine Scharade zur allgemeinen Erheiterung.“
„Das stimmt nicht“, erwiderte sie, obwohl diese Bemerkung ihr zu denken gab. In dem Spiel hatte sie die anderen nachgeahmt, wie sie es immer tat. Eine Rolle gespielt, um den Zuschauern zu gefallen.
„Wo ist Lady Agnes heute Abend?“, fragte er, ohne auf ihre Antwort zu achten.
„Sie wurde krank. Sie wollte die Majestäten nicht enttäuschen.“
„Also lügt Ihr sowohl für andere als auch für Euch selbst.“
„Warum glaubt Ihr lieber an eine Lüge?“ Dieser Mann verlangte nicht nur die Wahrheit, er unterlag auch dem
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