Die Tochter der Dirne
aber er hatte ihr nicht gesagt, dass er überhaupt nicht heiraten würde. Wenn sie den Grund dafür kannte, würde sie ihn zweifellos ebenfalls nicht wollen.
Sie sah ihm in die Augen. „Ihr seid so stolz darauf, immer die Wahrheit zu sagen, aber ich frage mich, ob Ihr über Euch die Wahrheit sagt.“
Er sah zu, wie sie die Halle verließ, und fragte sich, ob er es vielleicht bedauern würde, sie zur Ehrlichkeit angeregt zu haben.
Doch es war leichter, wenn er das wahre Gesicht seines Feindes kannte. Außerdem – wenn er sie dazu brachte, sich zu offenbaren, dann wäre diese erzwungene Verlobung vielleicht doch nicht umsonst gewesen.
Eine Ehe konnte er ihr nicht geben, aber vielleicht konnte er ihr helfen, sich selbst zu finden.
Und der Welt eine weitere Lady Alys Weston ersparen.
„Frage Mutter, ob zwei Tage nach Mariä Lichtmess wahrscheinlich klingt“, schrieb Solay am nächsten Nachmittag an ihre Schwester, froh, dass dieses Wissen Janes Winter ein wenig erhellen würde. In der feuchten Wärme von Windsors Waschküche hatte sie die Wäscherin ausfindig gemacht. Die Frau hatte ein Lächeln voller Zahnlücken, ein hervorragendes Gedächtnis und erinnerte sich liebevoll an Alys Weston.
„Sie hat ihn glücklich gemacht“, sagte sie. „Ein König verdient es, glücklich zu sein.“
Und was ist mit uns Übrigen, fragte Solay sich voller Sehnsucht. Verdienen wir es, glücklich zu sein? Am vergangenen Abend hatte Justin gelacht. Zum ersten Mal hatte er sie ohne Strenge angesehen, ohne Urteil oder Zorn. Sein Lächeln hatte ihre Hoffnung genährt, jemanden zu finden, der sie ansah, ohne dabei ihre Mutter zu sehen.
Jemanden, der ihr etwas zum Geburtstag schenkte.
Sie schüttelte den Tagtraum ab. Justins Glück war es, das sie anstreben musste, nicht ihr eigenes. Sie musste ihn so glücklich machen, wie ihre Mutter den König gemacht hatte.
Übermütiges Geschrei aus dem Innenhof durchdrang die hölzernen Läden. Sie zog den Umhang fester, trat zum Fenster und spähte durch einen Spalt im Holz hinaus.
Der erste Schnee bedeckte den Boden, doch statt Ruhe und Frieden zu bringen, hatte sich der innere Hof in ein Schlachtfeld verwandelt. Drei Pagen und ein Küchenjunge bewarfen einander mit Schneebällen, rannten, duckten sich und schrien immer abwechselnd. Mittendrin, wie ein zehnjähriger Junge – Justin.
Der Anblick erweckte in ihr Bedauern für den Jungen, der er einst gewesen sein musste, und für das Kind, das sie nicht mehr war.
Ein Dankeschön, weil er ihr den Namen der Wäscherin genannt hatte, wäre ein Grund für sie, zu ihm zu gehen. Sie verließ das wärmende Feuer, eilte den Gang entlang und blieb im Schutze der Tür stehen, sah dem spielerischen Kampf zu und zögerte, in die Kälte hinauszutreten.
Lachend sah Justin zu ihr hinüber. „Lady Solay! Fangt!“
Ein Schneeball flog auf sie zu und traf ihren roten Samtumhang.
Hastig wischte sie den weichen Stoff ab, und der kalte Schnee betäubte ihre Finger. Wenn das Geschenk des Königs verdorben war, würde er schlecht von ihr denken.
Auf der anderen Seite des Hofs lachte Justin so jungenhaft heiter, dass sie sich zu einem Lächeln und einem Winken zwang. Er lächelte zurück, offensichtlich wegen seines Treffers und nicht ihretwegen.
Die Burschen liefen zum Rundturm, warfen einander noch immer Schneebälle zu, und ihre Rufe hallten von den steinernen Mauern wider. Justin kam zu ihr und freute sich über den ersten Schnee, als wäre der ein Geschenk und kein Fluch.
Das Lächeln betonte das Grübchen in seinem Kinn und ließ die Linien auf seinen Wangen weicher wirken. Große, feuchte Flocken bedeckten sein Haar und seine Schultern, und seine Brust hob und senkte sich von der Anstrengung. Trotz der Schneeballschlacht trug er keine Handschuhe.
Nie hatte er verführerischer ausgesehen.
„Kommt …“ Er nahm ihre Hand in seine, die trotz des Schnees warm war, und zog sie in den Hof. „Seht nach oben.“
Gehorsam legte sie den Kopf in den Nacken und ließ die Kapuze zurückfallen. Schneeflocken rieselten vom Himmel, drehten sich im Kreis, verwirbelten sich, erfüllten ihr ganzes Blickfeld. Ihr wurde schwindelig, oben und unten verschmolzen miteinander, ununterscheidbar.
Sie taumelte.
Er griff nach ihrem Arm, und seine Wärme hielt die Kälte von ihr fern. Seit dem Kuss war dies das erste Mal, dass er sie wirklich berührte. Selbst sein Blick schien sie zu wärmen. Einen Moment lang gestattete sie sich, sich in seinem Lächeln
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