Die Tochter der Dirne
auszuruhen.
Seine Bedürfnisse. Denk an seine Bedürfnisse. „Ihr mögt den Schnee?“
Er nickte, und ein ungekünsteltes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Ich sehe gern zu, wenn es schneit.“
In seinen Armen fühlte sie sich sicher und spürte weder den Wind, noch vermisste sie das Feuer. Als er sich zu ihr beugte, lehnte sie sich an ihn. Sein Atem streifte wie ein Wispern ihre Wange, als er näher kam.
Jetzt, dachte sie, und öffnete die Lippen.
Abrupt ließ er sie los. „Ihr wollt einen Kuss, Lady Solay? Dann gebt ein Stückchen Wahrheit dafür. Sagt mir – mögt Ihr den Schnee?“
„Natürlich.“ Sie setzte die Kapuze auf, um die Flocken von ihrem Kopf fernzuhalten. Die Kälte brannte in ihren Augen. „Er ist schön. Ich sehe gern zu, wenn es schneit.“
Seine Augen verloren jeden Glanz, und sie sah sich wieder ihrem Feind gegenüber. „Wie seltsam, Lady Solay. Genau das sagte ich Euch gerade.“
Der eisige Wind verfing sich in ihrem Umhang. Sie zog die Schultern hoch und vermisste die Wärme in seinem Blick ebenso sehr wie die seines Körpers. „Gefällt es Euch nicht, dass wir beide dasselbe mögen?“
„Es würde mir gefallen, wenn Ihr die Wahrheit gesagt hättet. Ich habe gefragt, ob Ihr den Schnee mögt.“
„Wäre es Euch nicht lieber, wenn ich mag, was Ihr mögt?“
„Mir wäre es lieber, Ihr würdet erst einmal wissen, was Ihr selbst mögt. Jetzt noch einmal: Mögt Ihr den Schnee?“
Welche Rolle spielte es, was sie dachte? Niemand hatte sie je nach ihrer eigenen Meinung gefragt.
Nur dieser Mann.
„Ich weiß es nicht.“
Er verschränkte die Arme und versperrte ihr den Weg zu den schützenden Mauern Windsors, so unbeweglich wie ein Eisklotz. „Dann werden wir hier stehen und ihn erleben, bis Ihr es wisst.“
Zorn stieg in ihr auf. Warum gab er sich nicht mit oberflächlichen Höflichkeiten zufrieden? Niemand sonst zwang sie, ihre eigene Meinung zu hinterfragen. Sie unterdrückte ein Stirnrunzeln, während sich die eisigen Flocken in ihren Wimpern verfingen.
Der Winter bedeutete für sie eine lange, dunkle, verhasste Jahreszeit, mit klammen Fingern und knurrendem Magen, in der die Fastenzeit fast unmittelbar auf das Weihnachtsfest folgte, als gäbe es bis zum Frühling nichts mehr, was man essen könnte.
Fröstelnd kniff sie die Augen zusammen. „Ich hasse Schnee.“ Sie würde ihm die Wahrheit sagen, und mehr noch. „Ich hasse alles am Winter: Schnee, Kälte, Eis, lange, dunkle, schlaflose Nächte, kurze, sonnenlose Tage.“ Er zog die Brauen hoch, als sie ihm ihre Worte ins Gesicht schleuderte. „Da. Jetzt habt Ihr mein Geständnis. Und wo ist jetzt der Kuss, den Ihr versprochen habt?“
Gewiss würde er sie jetzt nicht mehr küssen, da sie anderer Meinung war als er.
Aber ein Lächeln umspielte seine Lippen. Wärme – nein, mehr als Wärme, Glut funkelte in seinen Augen. Er umfasste ihre Wangen und beugte sich über sie.
Sein Kuss machte sie noch mehr schwindeln als der Schnee. Unter seinen Händen fühlte sie sich verletzlich und beschützt zugleich, und bei der Berührung seiner Lippen, so stark und fordernd, schien etwas in ihrem Leib Feuer zu fangen.
Oh, für das hier würde sie tausend Wahrheiten sagen.
Sie legte die Arme um seine Taille, wollte seine Wärme spüren. Ihre Brüste streiften seine Brust, ihre Hüfte ruhte an seiner, und überall, wo sie ihn berührte, fühlte sie Hitze.
Sie erwiderte seinen Kuss, gierte nach seinem Geschmack und nach mehr. Seine Brust hob und senkte sich, genauso wie vorhin, als er mit den Jungen gerannt war.
Sie presste sich noch an ihn, als er sich behutsam von ihr löste.
Dann räusperte er sich. „Seht Ihr, Lady Solay? Die Wahrheit ist gar nicht so schwer.“
Lächelnd sah sie zu ihm auf, fühlte die zärtliche Schwäche, von der die Dichter immer sprachen. Jetzt. Wenn sie es ihm jetzt sagte, würde er ihr bestimmt glauben. „Ich liebe Euch.“
Er trat zurück, und seine Miene wurde undurchdringlich. Wieder fiel der Schnee zwischen sie. „Ihr lernt nichts dazu. Ich habe Eure Lügen satt.“ Er kehrte ihr den Rücken zu und ging zur Tür.
Sie verfluchte sich, weil ihr diese Worte entschlüpft waren. Sie hatte sich verschätzt. Nein, sie hatte gar nichts geschätzt. In seinen Armen zu liegen, seinen Kuss zu spüren, das hatte sich so gut angefühlt, dass sie sich gewünscht hatte, es möge nie enden. Es waren nur drei Worte, drei Worte, von denen sie geglaubt hatte, sie würden ihr helfen, dass es für immer
Weitere Kostenlose Bücher