Die Tochter der Dirne
„Justin vertraute mir, und ich vertraute dir. Aber dennoch hast du keinen Beweis, dass du diesen Mann je geheiratet hast, und jetzt sagst du, du kannst dich nicht einmal daran erinnern?“
Auf den Wangen ihrer Mutter erschienen rote Flecken. „Du bist grausam und weißt gar nichts.“
„Ich weiß, dass du nicht die ganze Wahrheit sagst.“ Solay drückte den Stoff von Justins Tunika in ihrer Faust zusammen und stand auf. „Wenn Justin den Fall verliert, wird es nicht allein sein Fehler sein.“
Ihre Mutter presste die Lippen zusammen, und Solay verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Sie brachte die Flickarbeit in ihre Kammer und ging dann in Justins Arbeitszimmer. Er sollte wenigstens wissen, was ihre Mutter gesagt hatte.
An der Tür blieb sie stehen und genoss den Anblick des geraden, breiten Rückens, den sie noch am Morgen vor dem Aufstehen berührt hatte. Einen Moment lang spielte sonst nichts eine Rolle. Wenn sie doch nur den Rest der Welt für immer aussperren könnten.
Als sie seufzte, drehte er sich um und lächelte. Der Stapel an seinem linken Ellenbogen war kleiner geworden. „Ich bin fast fertig.“ Dann schlug er enttäuscht mit der Faust auf den Stapel. „Hier ist nichts.“
„Mutter hat ihr Möglichstes getan, die Wahrheit zu verbergen. Sie behauptet, sich nicht einmal an den Tag ihrer Hochzeit zu erinnern.“
„Es gibt keine Aufzeichnungen darüber.“ Er wedelte mit den letzten Dokumenten. „Eine weitere Urkunde, eine weitere Rechnung …“
Ein zusammengefaltetes Dokument mit einem zerbrochenen roten Wachssiegel fiel heraus.
Sie kniete neben ihm nieder und betrachtete das Bild eines Löwen auf den Hinterbeinen. Das Siegel der Westons.
Mit zitternder Hand hob sie das Pergament auf. Es trug kein Datum, nur ein paar Zeilen, flüchtig dahingeschrieben, ohne Unterschrift.
Mich hat die Nachricht von der Geburt Eurer Tochter erreicht. Ich hoffe, es verlief alles so, wie Ihr es wünschtet. Diese Ame thystbrosche ist für sie. Wenn sie erwachsen ist, erzählt ihr die Wahrheit.
Ein kalter Schauer durchfuhr sie, als sie begriff.
„Was ist das?“
„Eine Nachricht von Weston. Sie kam mit einem Geschenk zu meiner Geburt. Einer Amethystbrosche.“
Eine Amethystbrosche wie die, die der König ihrer Mutter geschickt hatte. Sie hat damals dir gehört, Solay. Ein Geschenk deines Vaters.
Und die ganze Zeit über hatte sie gedacht, ihre Mutter meinte den König.
„Wie es scheint“, sagte sie und zwang sich zum Sprechen, „bin ich nicht königlicher als du.“
Er nahm den Brief und überflog die Zeilen, die so vage gehalten waren, dass der König sich vielleicht hätte täuschen lassen, wenn er sie gelesen hätte. „Es kann eine andere Erklärung dafür geben. Vielleicht wollte Weston sich beim König einschmeicheln.“
Sie umfasste ihre Ellenbogen und versuchte, die Leere zu vertreiben. Stolz war sie bei Hofe aufgetreten, aber ihr Dasein allein war die größte Lüge von allen.
„‚Der König nannte dich seine Tochter‘. Das hat Mutter immer gesagt. Sie hat nicht gesagt, dass ich seine Tochter war.“
Er setzte eine entschlossene Miene auf. „Komm. Es ist Zeit für deine Mutter, die Wahrheit zu sagen.“
Er stand auf, aber sie hielt ihn fest. „Nein. Bleib hier. Das muss ich allein machen.“
Erinnerungen bestürmten sie, während sie zum Wohngemach ging. Kein Wunder, dass Weston alles verschleudert hatte, was sie besaßen. Er musste es als kleine Wiedergutmachung dafür gesehen haben, dass man ihm sein Kind genommen hatte.
Sie stand an der Tür, den Brief in der zitternden Hand. „Warum hast du es mir nicht gesagt, Mutter?“
Ihre Mutter sah auf. Ihr Blick fiel auf den Brief, aber sie griff nicht danach. „Dir was gesagt?“
„Dass ich nicht die Tochter eines Königs bin.“
Ihre Mutter erbleichte, und sie schien vor Solays Augen in sich zusammenzufallen und zu altern. „Du solltest es nicht wissen“, flüsterte sie und blickte zur Tür, ob auch niemand zuhörte.„Kein Mensch sollte es wissen.“
Es stimmte also. Alys hatte dem König das Kind eines anderen untergeschoben. Entdeckung hätte den Tod bedeutet.
Ihr Leben lang hatte Solay sich an ihr königliches Blut geklammert, das Einzige, was aus ihrem Leben etwas Besonderes machte. Jetzt war selbst das eine Lüge. Ihr gesamtes Dasein war ein kunstvoller Betrug.
Sie verspürte heftigen Schmerz in ihrer Brust, aber sie wusste nicht, ob der Schmerz ihrer Mutter galt oder ihr selbst. „Warum?“ Sie flüsterte
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