Die Tochter Der Goldzeit
Verhungernde verschlang sie die Sätze. Sie verschwammen hinter ihren Tränen. Wieder und wieder musste sie den Brief weglegen, um sich die Augen auszuwischen. Die Männer hatten sich unten an der Treppe bei Polderau und Zorcan versammelt und machten betretene Gesichter. Polderau stieß langgezogene, wehmütig quiekende Töne aus.
Waller Rosch überwand schließlich seine Scheu, stieg zu Katanja herauf und reichte ihr ein Tuch. Sie trocknete ihre Tränen und schnäuzte sich. »Danke ... und jetzt lass mich bitte wieder allein.«
Er nickte, machte kehrt und stieg hastig die Stufen hinunter. Sie aber las aufs Neue die Botschaft aus Altbergen.
Alle hatten sie ein paar Zeilen geschrieben - ihre Eltern Tondobar und Mai, ihr Bruder Friedjan, der Ratsälteste Linderau, die Botanikerin Helvis -, alle, die ihr nahestanden. Ungläubig las Katanja, dass ihre Mutter Mai noch einen Jungen geboren hatte. Jannis hieß er und war bereits zwei Winter alt. Und ihr Bruder Friedjan war erst vor kurzem Vater geworden: Eine Enkelin Linderaus hatte ihm Zwillingstöchter geboren; das Paar hatte ihnen die Namen Weronia und Katanja gegeben. Seit einem Winter ritt Friedjan mit den Katafrakten.
Tondobar arbeitete am Nachbau eines Streichinstruments, dessen Überreste eine Expedition in einer Ruinenstadt am westlichen Seeufer gefunden hatte. Linderau hatte ein Buch über die Dressur von Elstern geschrieben. Mit fahriger und verwaschener Handschrift erwähnte es der Ratsälteste im Brief. Helvis war die Zucht einer neuen Rosensorte gelungen, die ganzjährig blühte und deren gelbe Blütenblätter orangefarbene Ränder hatten.
Der ehemalige Katafrakt Borg hatte die Ratsfrau Lundis geheiratet. Sie war schwanger. Insgesamt zwölf Kinder waren geboren worden, seit Katanja die Sozietät verlassen hatte; sieben alte Männer und Frauen waren gestorben.
Den größten Teil des Briefes aber hatte die Meisterin verfasst. Grittanas Handschrift war geradlinig und klar wie eh und je. Katanja las ihre Zeilen dreimal, viermal. Immer wieder kehrten ihre Augen zu den Worten am Ende des Briefes zurück, zu den Sätzen, die ihr Angst machten.
Tikanum ist gefallen, hieß es da, wir wissen es von Überlebenden der Sozietät. Unsere Feinde haben Gefangene gemacht. Möglicherweise haben sie erfahren, dass einer von uns auf dem Weg zur Lichterburg ist. Sei vorsichtig, Katanja, und beeile Dich ...
Kapitel 10
Flammen erleuchteten den Nachthimmel über Savasom.
Asche und Rauch stiegen aus der Stadt auf. Sämtliche Stallungen auf Shoshacs Anwesen fraß das Feuer, viele benachbarte Häuser und Hütten brannten nieder. In allen Gassen schrien Menschen, in allen Gärten, auf allen Höfen schnatterten wild gewordene Schreivögel, blökten entfesselte Mammutziegen, quiekten angriffslustige Schweine.
Bosco hatte sich in eine der vielen Löschketten eingereiht, die sich zwischen dem Weiher auf der Ziegenkoppel und den brennenden Häusern rund um den Dorfplatz gebildet hatten. Wassereimer um Wassereimer ging hier von Hand zu Hand. Die Frauen heulten und keiften, die Männer fluchten oder riefen Dashirin an. Schon erhoben sich erste anklagende Stimmen und Fragen: War das Feuer nicht auf dem Anwesen des Ratsältesten ausgebrochen? Hatten sie dort nicht die halbe Nacht gesoffen und gehurt? Hatte etwa einer von Shoshacs Gästen im Suff eine Fackel in das Stroh des Ferkelstalls fallen lassen?
Bosco fluchte nicht, heulte nicht, beteiligte sich nicht an den Mutmaßungen. Er wusste, was geschehen war: Ein kleiner, einäugiger Kahlkopf hatte zuerst einem toten Waldläufer aus Tikanum die Augen zugedrückt, drüben im Schreivogelstall; hatte dann Schreivögel und Mammutziegen gegen ihre Menschenherren aufgehetzt und Shoshacs Säue gegen alle, die draußen auf dem Hof und auf dem Dorfplatz Schweine brieten und aßen. O ja - nicht nur ein Dolmetscher der Menschensprachen war dieser kleine Kahlkopf, auch die Sprachen der Tiere beherrschte er!
Daran, dass er Tibans Bewacher getötet hatte, versuchte Bosco nicht zu denken, während er Eimer um Eimer weiterreichte. Er hatte dem Gefährten eine Flasche Lampenöl und einen gesattelten Mammutbock gebracht und ihn aus seinen Fesseln befreit. Mit dem Öl hatte Tiban das Feuer bei dem getöteten Wächter im Ferkelstall entfacht, als Bosco sich längst wieder unter die Weintrinker und Tänzer mischte. Im Sattel des Bocks war Tiban nun auf dem Weg nach Norden, nach Hagobaven.
Erst im Morgengrauen löschten sie die letzten Flammen. In allen
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