Die Tochter Der Goldzeit
mühselige Bewegung der Schultern bei jedem Atemzug verrieten einen erschöpften Mann.
»Niemand, der dir Böses will.« Friedjan ging langsam auf ihn zu. Aus der Höhle hinter dem Mann drang Geflüster. »Und wer bist du?«
»Altbergen?«, fragte der Fremde, statt zu antworten. Der Canide beschnüffelte ihn.
Friedjan blieb stehen.
»Tarsina!« Der Fremde streifte die Kapuze vom Kopf. Er hatte langes schwarzes Haar und war gut zehn Winter älter als Friedjan. Neben seinem linken Auge, zwischen Schläfe und Wangenknochen, wölbte sich die Narbe einer schlecht verheilten Wunde. »Einen wie dich nennt man Katafrakt. Und jetzt sag endlich den Namen deiner Meisterin!«
»Grittana.« Friedjan gab sein Misstrauen auf und stellte sich vor. Auch der andere nannte seinen Namen: Honnis. Ein kleines Mädchen und zwei Frauen krochen aus der Höhle. Sie bewegten sich wie Schlafwandler, so langsam.
Tondobar stapfte durch den Schnee heran. Mit einem seiner Kolks hatte er schon eine Botschaft an den Rat nach Altbergen geschickt. »Ihr stammt aus Tikanum?«, wandte er sich an die Flüchtlinge. »Was ist dort geschehen?«
»Ich bin Valena, Ratsfrau von Tikanum«, flüsterte eine der Frauen. Das erschöpfte Mädchen lehnte zitternd an ihrer Brust. »Krieger des Eisernen haben uns entdeckt.« Die Frau hatte dunkle Augen, schwarze Brauen und silbergraues Haar, obwohl sie nicht älter als Anfang dreißig sein konnte. »Sie haben unsere Erdstadt zerstört und viele getötet.« Sie war zu schwach, um noch laut sprechen zu können.
»Das ist entsetzlich.« In Tondobars Miene kämpfte Erbarmen mit Strenge. »Doch zu uns zu flüchten verstößt gegen die Verträge zwischen den Sozietäten. Der Eiserne braucht nur euren Spuren im Schnee zu folgen, um uns zu finden!«
Die andere, jüngere Frau fing an zu weinen. Das zitternde Mädchen starrte die beiden Männer aus leeren Augen an. Friedjan schnürte es das Herz zusammen.
»Was hätten wir denn tun sollen?«, fragte die Ratsfrau Valena.
»Keine Nachricht von euch verriet, dass unsere Warnungen euch erreicht haben. Also befahl unsere Meisterin, unser Leben zu wagen, das Eisgebirge zu überqueren und die Warnung persönlich zu überbringen.«
Tondobar schwieg betroffen.
»Ihr müsst euch keine Sorgen machen«, krächzte der mit dem Namen Honnis. »Es geschah Ende des vorletzten Jahres, dass sie Tikanum eroberten. Wer von uns flüchten konnte, hat sich den ganzen Sommer über in den Bergen versteckt. Im Herbst dann haben wir falsche Spuren in der Flussebene zwischen den Gebirgen gelegt. Erst als wir sicher waren, dass niemand mehr nach uns suchte, haben wir den Aufstieg ins Eisgebirge gewagt. Auch dort versteckten wir uns wochenlang in einem Tal. Mit dem ersten Schnee machten wir uns dann an den Abstieg zum Großen See.«
»Ihr seid noch mehr?«, entfuhr es Tondobar.
»Über dreißig von uns haben es über den Gebirgskamm von Apenya in die Flussebene geschafft.« Valena drückte die weinende jüngere Frau an sich. »Als wir das Eisgebirge erstiegen hatten, waren wir noch einunddreißig. Fast zwanzig Kinder hatten wir bei uns.« Stumm strich sie dem teilnahmslos vor sich hin starrenden Mädchen über das Haar.
»Für den Abstieg haben wir uns in mehrere Gruppen aufgeteilt«, berichtete Honnis. »Vor zwei Tagen geriet unsere Gruppe in einen Schneesturm. Wir wissen nicht, wie es den anderen erging und wie viele von ihnen es bis zum See geschafft haben.«
Stumm betrachteten Friedjan und Tondobar die entkräfteten und verzweifelten Menschen. Beide, Vater und Sohn, dachten an die Spuren im Schnee und an die möglichen Verfolger dieser Flüchtlinge; sie dachten an den Eisernen und seine barbarischen Krieger. Doch kein Wort des Vorwurfs kam mehr über die Lippen des Ersten Torwächters. Wer wusste denn, ob diese vier von Hunger und Erschöpfung Gezeichneten überleben würden?
Friedjan zog seinen weißen Pelzmantel aus und breitete ihn über die weinende Frau. Er holte die Reitdecke von seinem Widder und wickelte Valena und ihre Tochter darin ein. Tondobar überließ Vale-na seinen Mantel. Sie gaben den Flüchtlingen zu essen und zu trinken.
Wenig später ritten Jäger in den Steinbruch. Sie hoben die Flüchtlinge auf die Böcke und den Widder. Durch den Winterwald führten Friedjan und sein Vater die Tiere nach Altbergen hinauf.
Kapitel 9
Der letzte Schnee taute, es wurde Frühling. Katanja trauerte: kein Brief aus Altbergen. Zugleich aber fieberte sie der Stunde entgegen, in der die
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