Die Tochter Der Goldzeit
mit eigenen Augen, was geschah in jenen so >goldenen< Zeiten? Sah ich nicht selbst, wie ein Narr lauter aufzutreten suchte als der andere, wie ein Vermessener höher in den Himmel zu steigen suchte als der andere? Und sah ich sie nicht alle gleichermaßen stürzen ...?<« Der Primoffizier las mit hoher, ein wenig gepresster Stimme. Aus seinem Mund klangen all die düsteren Dinge nur halb so bedrohlich. »>... Oh ja, das alles sah ich, so wahr ich der Höchste bin! Und ich sah kleine Sonnen im Himmel aufblitzen, und ich sah sie erlöschen; ich sah Städte verglühen, Wälder verbrennen und Flüsse und Seen verdampfen; ich sah Rauch und Dampf und Asche aufsteigen ...<« Er las und las, und die Mittagssonne brannte auf die Barbaren herunter. Nach einer halben Stunde hörte er auf. Er schlug das Buch zu und rief: »Der Subkommander wird nun zu euch reden.«
Alle Augen richteten sich auf den schwarzen Eisenhünen, denn nur den konnte der Vorleser gemeint haben. »Geduld braucht ihr, vor allem Geduld«, tönte es dumpf und schleppend hinter dem Visier des Eisernen. »Mit der Zeit werdet ihr die Lehre Dashirins schon noch kennenlernen. Sein Wille ist Friede und Ordnung, versteht ihr das? Ordnung muss wieder herrschen, wenn die Wahre Goldzeit anbrechen soll! Friede und Ordnung, dann wird alles gut!«
Jedes Wort prägte Bosco sich ein. Was er über die Goldzeit und die Götternacht wusste, hatte er während seiner Jugendjahre in der Chronik gelesen oder von der Meisterin gehört. Viel war das nicht, denn die alten Geschichten hatten ihn von jeher gelangweilt. Zu unwirklich erschienen sie ihm, zu märchenhaft. Überhaupt war er immer ein schlechter Schüler gewesen, hatte lieber Blumen gepresst und Sterne und Tiere beobachtet. Jetzt bereute er seine jugendliche Gleichgültigkeit.
»Und was werdet ihr tun, damit Friede und Ordnung herrschen können?« Der Bass des schwarzen Eisenmannes dröhnte. »Für heute merkt ihr euch nur diese vier Dinge: Wenn ihr den Mund aufmacht, sagt ihr die Wahrheit. Keiner tötet, es sei denn, Dashirins Wille und Gesetz gebieten es. Und vor allem dies: Ihr müsst gehorchen, verstanden? Kinder gehorchen ihren Eltern, Frauen ihren Männern, Männer ihrem Obersten, und der Oberste gehorcht Dashirin.«
Er machte eine Pause. Vielleicht musterte er die Fischer und Jäger auf dem Dorfplatz durch die leuchtenden Schlitze seines Visiers hindurch, um die Wirkung seiner Worte einzuschätzen. Bosco konnte es nicht erkennen, der Riese bewegte ja nicht einmal den Kopf.
»Gute Zeiten brechen an für euch«, tönte es wieder hinter dem Visier. »Denn euer Oberster bin jetzt ich!« Alle Augen richteten sich auf den Cabullo. »Das könnt ihr euch doch merken, oder?«, tönte der Eisenmann. »Du da!« Er streckte den Arm aus, Rüstungsscharniere quietschten. »Willst du die Gesetze Dashirins halten, unter den Horden und Stämmen dieser Gegend verbreiten und mir fortan als deinem Obersten gehorchen?« Er deutete auf den Cabullo.
Totenstille, sogar der Wind schien den Atem anzuhalten. Der Cabullo saß wie festgefroren auf der Kante seines Richterstuhls. Vier, fünf Atemzüge lang geschah gar nichts. Endlich zuckte er mit den Schultern und sagte heiser: »Warum nicht?«
»Gut«, tönte der Eiserne. »Und das wär's auch schon fast für heute.«
»Du sprachst von vier Dingen, die wir uns merken sollen!«, rief der Oberste der Wildsaujäger, der jüngste Bruder des Cabullos. »Drei hast du genannt - was ist mit dem vierten?« Er war groß, massig und von erschütternder Hässlichkeit.
»Deswegen sagte ich >fast<, mein Freund!« Die tiefe, monotone Stimme des schwarzen Hünen ließ den Boden vibrieren. Alle Männer und Frauen auf dem Dorfplatz schlug sie in den Bann, Bosco sah es ihren staunenden Mienen an; auch ihm selbst ging die Stimme durch und durch. »Hört also noch das Vierte, das ihr euch für heute merken müsst. Ohne Frieden, Ordnung und Gehorsam keine Wahre Goldzeit, habe ich gesagt, und ich füge hinzu: Ohne den Goldzeitschatz in der Lichterburg keine Wahre Goldzeit! Ich spreche nicht von der vergangenen Goldzeit, die den Geschlechtern der Alten den Untergang beschert hat, ich spreche von der Neuen Goldzeit, von der wahren. Die wird uns Glück und Frieden bringen. Doch um sie heraufzuführen, brauchen wir den Goldzeitschatz.« Mit flüchtiger Geste erteilte er dem Rotmantel auf der Veranda wieder das Wort.
»Wir müssen den Goldzeitschatz finden, so ist es.« Der Primoffizier räusperte sich. Bosco
Weitere Kostenlose Bücher