Die Tochter Der Goldzeit
der Ort, den die Meisterin von Zeit zu Zeit aufsuchte, um »an das Tor der Anderen Welt zu klopfen«, wie sie das nannte.
Bosco stieg vom Rücken des Mammutwidders. Aus dem Geäst des Oleanders auf der anderen Seite des Brunnens trat eine große Frau von kräftiger Statur und kam rasch auf sie zu. Sie war etwa fünfzig Sommer alt, hatte volles schwarzes Haar, ein rundes Gesicht und große samtbraune Augen - Tarsina, die Meisterin von Tikanum.
Sie lief schneller, als sie ihn erkannte, schloss ihn in die Arme und weinte. Und was soll man sagen? Auch Bosco weinte. Der aufgestaute Schmerz von neun Sommern brach aus ihm heraus und das ungeheure Heimweh, das ihn am Leben erhalten hatte, als er im Meer trieb und im Steinbruch schuftete. Am Ende saßen beide auf moosbedeckten Steinstufen vor dem Brunnen und hielten einander fest. Bosco heulte sich an Tarsinas mütterlicher Brust aus.
Keiner hatte die verschiedenen Sprachen der Menschen so schnell gelernt wie der junge Bosco - und die der Tiere sowieso. Dennoch war er ein schwieriger Schüler gewesen, der schwierigste, den die Meisterin je hatte, wie Tarsina in manchen Jahren nicht müde wurde zu betonen. Doch auch, wie sehr sie ihn gemocht hatte, ja, dass sie all die Jahre regelrecht vernarrt in ihn gewesen war, hatte sie nie zu verbergen versucht. Ohne ihre energische Fürsprache im Rat und bei seinem Vater, dem Ratsältesten, wäre er niemals mit Unterstützung der Sozietät in seine geliebte Wildnis entlassen worden; wäre er niemals Erster Sonderkundschafter geworden, wie sie das für ihn geschaffene Außendienstamt damals nannten.
Als er genug geweint hatte, berichtete er: von seiner Rettung, seiner Gefangenschaft, den fremden Viermastern im Hafen von Chiklyo, vom schwarzen Eisenriesen und der Unterwerfung der Küstensiedlungen. Über das Mädchen verlor er kein Wort.
Tarsina ließ sich eine Silbermünze zeigen. »Pferde«, sagte sie und tippte auf die Tiere, die den Schild unter dem Greifen hielten.
»Und wer führt solch ausgestorbenes Viehzeug in seiner Flagge?«
»Die aus Jusarika, dort gibt es angeblich noch Pferde.« Tarsinas Gesichtshaut war auf einmal fahl und ihre Stimme belegt. »Sind sie also tatsächlich den weiten Weg über das Westmeer gesegelt ...« Als könnte sie es nicht fassen, schüttelte sie den Kopf. »Und der Eiserne ist mit ihnen zurückgekehrt .«
»Was sind das für Leute, diese Jusarikaner? Und wer ist dieser Eisenkerl?«
»Narren sind das!«, zischte die Meisterin. »Über Jahrhunderte ha-ben sie dem Ansturm der Barbaren getrotzt, und jetzt träumen sie von der Weltherrschaft. Der Eiserne wird auch Betavar genannt. Er führte einst die Zweite Jusarika-Expedition übers Westmeer, das ist mehr als dreihundert Sommer her. Die aus Jusarika wollen das Erbe der Goldzeit, deswegen haben sie sich mit ihm zusammengetan.«
»In Chiklyo hat man uns aus dem Spruch Dashirins vorgelesen.« Bosco dachte an den Rotmantel. »Hörte sich ganz vernünftig an.«
»Es sind Tyrannen! Sie streben nach einer neuen Goldzeit!«
»Und was wäre so verkehrt an einer zweiten Goldzeit?«
»Damit es zur nächsten Götternacht kommt, die die Erde noch schlimmer verwüstet und die Menschheit endgültig auslöscht?« Tarsina winkte zornig ab. »Du weißt ja nicht, wovon du sprichst. Diese Leute werden die Welt ein zweites Mal zugrunde richten.« Grübelnd starrte sie auf ihre schwieligen Hände. »Sie suchen das Erbe der Goldzeit . Ich frage mich, warum sie neun Sommer mit Eroberungsfeldzügen verlieren, statt direkt zur Lichterburg zu ziehen.«
»Sie kennen den Weg nicht.«
»Wie kommst du darauf?«
»In Chiklyo habe ich mit eigenen Ohren gehört, wie einer ihrer Hauptleute den Weg zur Lichterburg ein >Geheimnis< nannte, das nur ganz wenige Menschen auf Erden kennen. Diese wenigen nannte er >Feinde der Wahren Goldzeit< und >Maulwürfe<. Deswegen suchen sie Tikanum und Altbergen.«
Tarsina zuckte zusammen. Stumm und noch fahler als zuvor starrte sie ins Leere.
Bosco berührte sie an der Schulter. »Früher, im Unterricht, hast du über diese Dinge nie gesprochen. Warum nicht?«
»Niemand darf das Erbe der Goldzeit finden. Noch nicht.« Tarsina flüsterte. »Niemand darf es nutzen, bevor die Menschheit nicht reif dafür ist. Und das ist sie noch lange nicht. Deswegen sind diese Dinge streng geheim. So geheim, dass nur wenige Menschen in Altbergen den Weg zur Lichterburg kennen.«
»Dann ist Altbergen in größerer Gefahr als wir«, sagte Bosco.
»Falsch.«
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