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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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zu sehen. Während der langen Winterabende hatte sich Marthe-Marie angewöhnt, ihnen Geschichten zu erzählen, und neuerdings wechselte sie sich dabei mit Antonia ab.
    «Als der edle Rittersohn zwölf wurde», hörten sie das Mädchen sagen, «sollte er mit seinem Oheim, einem gefürchteten, waghalsigen Ritter, zum ersten Mal in die Schlacht ziehen. Doch im Gegensatz zu seinen Freunden hatte Albert große, große Angst davor. Wisst ihr, was er tat? Er verkleidete sich als Mädchen   …»
    Marthe-Marie setzte sich neben die Tür und lauschte der Geschichte von dem jungen Knappen, der kein Ritter werden wollte. Sie beobachtete im warmen Schein der Tranlampe ihre Tochter. Agnes würde diesen Sommer drei Jahre alt werden, doch war sie für ihr Alter ungewöhnlich wach und aufmerksam, dabei unternehmungslustigwie eine junge Katze. Und so selbstständig. Manches Mal schon hatte Marthe-Marie bedauert, dass Agnes so wenig von einem anschmiegsamen Hätschelkind hatte. In ihre Arme kam sie eigentlich nur, wenn sie müde war oder sich bei ihren rauen Spielen wehgetan hatte. Marthe-Marie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob dieses Wilde, Ungebändigte Teil ihres Wesens war, oder ob nicht vielmehr das Leben bei den Fahrenden sie geformt hatte. Und ob sie als Mutter nicht besser dafür sorgen sollte, dass Agnes zu einem Mädchen, zu einer Frau heranwuchs, die sich verhielt, wie es von aller Welt erwartet wurde. Jetzt kauerte die Kleine dicht vor Antonia und hörte ihr mit großen Augen und halb geöffneten Lippen gebannt zu, das schwarze Haar umrahmte in widerspenstigen Locken ihr Gesicht. Mehr und mehr unterschied sich Agnes trotz der dunklen Haare und der zarten Gesichtszüge von ihr und damit der Linie ihrer mütterlichen Ahnen: Keine von ihnen hatte diese Locken besessen und diese tiefblauen Augen.
    Marthe-Marie fuhr zusammen, als sich die Tür neben ihr einen Spalt breit öffnete und eine Stimme flüsterte: «Marthe-Marie, ich muss mit dir reden.»
    Sie zog ihren Umhang über die Schultern und schlüpfte hinaus. Draußen stand Diego. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie im Dunkeln nicht deuten.
    «Gehen wir in den Requisitenwagen. Dort sind wir ungestört.»
    In Salomes Zelt schimmerte der Schein einer Lampe, und Marthe-Marie glaubte Maruschs Stimme zu hören. Der eisige Ostwind von der Alb hatte zugenommen. Rasch folgte sie Diego in das Innere des Wagens, wo es wenigstens windgeschützt war. Diego zerrte aus irgendeiner Ecke ein muffiges Schaffell als Unterlage, und sie setzten sich zwischen Kisten und Brettern auf die einzige freie Stelle am Boden.
    «Du hast mich zwar mitten aus Antonias Erzählung gerissen», sagte Marthe-Marie bissig, «aber ich wette darauf, dass deine Geschichtenoch viel abenteuerlicher ist. Noch abenteuerlicher womöglich als die Räuberfabel mit diesen Pilgern in Spanien. Also, was hast du mit dem Herzog zu schaffen gehabt? Er kannte dich doch ganz offenbar.»
    «Ich habe für ihn als Alchimist gearbeitet.»
    «Bemerkenswert! Don Diego, ein Andalusier, als Alchimist am schwäbischen Fürstenhof.»
    «Ich bin Schwabe. Und ich heiße Alfons Jenne.»
    Sie fragte sich, ob Diego jetzt grinste, und es ärgerte sie zunehmend, dass sie in der Finsternis nichts erkennen konnte.
    «Wenn wir in der nächsten Stadt auf einen indischen Nagelkünstler treffen», entgegnete sie spitz, «wirst du mir erklären, dass du mit ihm in Kalkutta auf glühenden Kohlen gelegen bist oder   –»
    «Hör zu, Marthe-Marie, es ist mir ernst. Ich möchte, dass du die Wahrheit erfährst.»
    «Und wenn ich sie gar nicht wissen will? Wenn es mir bis zum Hals steht, dass du alle naselang eine andere Lebensgeschichte verbreitest, wie es dir gerade passt? Dass du deine Gefährten und Freunde anlügst? Sie in unmögliche Lagen bringst?»
    «Du hörst dich an wie ein papistischer Pfaffe! Dabei kennst du nichts anderes als dein wohl behütetes Leben, von den wenigen Monaten bei uns abgesehen. Kann es sein, dass du, als der liebe Gott die Tugenden verteilte, immer am lautesten ‹hier!› gerufen hast? Weißt du was, Marthe-Marie? Am besten wärst du mit deinem Jonas nach Ulm gegangen und hättest ihn geheiratet; dann könntest du jetzt satt und selbstgefällig ein Leben als Schulmeistergattin führen. Und für deine Tochter würde ein anständiger Vater sorgen statt einer Horde unehrlicher Leute wie Messerwerfer, Wahrsagerinnen oder Possenreißer.»
    Marthe-Marie biss sich auf die Lippen. In dieser Weise hatte Diego trotz seiner Neigung

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