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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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seiner Strenge war mir das Kloster zur Heimat geworden. Zu meiner ersten und vielleicht einzigen.»
    Über vielerlei Umwege – er deutete nur an, dass sie mit dem Tod seiner Mutter und einer unglücklichen Liebe zu tun hatten – kam er fast zwei Jahre später nach Tübingen an das Evangelische Stift. Und dort traf er Johannes Kepler wieder. «Ich war enttäuscht, dass er nicht mehr meine Nähe suchte, denn ich begann ihn immer mehr zu bewundern. Nicht dass er auf mich herabsah, er war nur einfach durch und durch vergeistigt – während ich gerade das Leben mit seinen Freuden und Vergnügungen entdeckt hatte. Kepler ist ein Genius, einer der begabtesten und ungewöhnlichsten Köpfe unserer Zeit. Sein ganzes Denken war schon damals von einer einzigen Frage beherrscht: Nach welchen Gesetzen, nach welchem Plan hat Gott die Welt geschaffen? Darüber konnte er stundenlang debattieren. Von ihm lernte ich auch die kopernikanische Lehre kennen, die damals in Tübingen noch ganz im Geheimen gehandelt wurde. Da zeigte sich aber auch wieder, wie unterschiedlich wir waren: In den Disputen mit Abt und Ordinarien verteidigte er das neue Weltbild auf seine überlegte, ruhige Art, während ich wie ein Marktschreier herausblökte, dass die Erde sich um die Sonne dreht, und damit mehr als einmal in Teufels Küche geriet. Gemeinsam war uns allerdings, dass wir am eigentlichen Gegenstand unserer Studien, der Theologie, immer weniger Interesse fanden. Auch mich fesselten viel mehr Philosophie und Sternenkunde, die altenSprachen und die Poeterei. Kepler ging dann noch vor Abschluss seiner Studien als Lehrer und Mathematiker nach Graz. Mir dagegen saß die Dankesschuld meines herzoglichen Stipendiums und die Verpflichtung, später als Theologe oder Lehrer zu arbeiten, wie ein Fels im Nacken. So verbrachte ich immer häufiger die Tage am nahen Neckarufer statt in den Vorlesungen.» Er griff nach ihrer Hand. «Langweile ich dich nicht?»
    «Nein, im Gegenteil. Auf einmal könnte ich dir stundenlang zuhören. Es wird nur so entsetzlich kalt.»
    «Warte.» Er kramte in der Dunkelheit, bis er eine große Decke gefunden hatte, in die sie sich, eng aneinander geschmiegt, einhüllten.
    «Wie ging es weiter mit deinen Studien?»
    «Fünf Jahre verbrachte ich insgesamt am Stift, und der Abt drängte, ich solle mich endlich zum Abschlussexamen anmelden. Dabei war ich weder ein ernsthafter Wissenschaftler geworden, noch taugte ich für den geistlichen Stand. Ich war nicht einmal überzeugter Lutheraner. Weißt du, ich bin vielleicht nicht dumm und kann mich für vieles begeistern. Aber eine Sache dauerhaft zu verfolgen, das liegt mir wohl nicht. Ich besaß weder ausreichend Willenskraft noch Ausdauer, um meine Kenntnisse in irgendeiner Fakultät zu vertiefen. Dabei erhielt ich von meinen Repetitoren ausgezeichnete Beurteilungen.»
    Als dann aber in seinem letzten Jahr am Evangelischen Stift Herzog Ludwig starb und er an der feierlichen Beisetzung in der Tübinger Stiftskirche teilnahm, habe er geheult wie ein kleiner Bub, der seinen Vater zu Grabe trägt. Das war der Wendepunkt. Gleich am nächsten Tag meldete er sich für das Examen im folgenden Semester an.
    Doch dann brach die Pest über die Stadt herein. Wer Freunde oder Verwandte im Umland hatte, suchte dort Zuflucht, die Übrigen verbarrikadierten sich in ihren Häusern, kämpften mit Gewürznelken,Weihrauch und Moschusäpfeln gegen die Miasmen, die giftigen Dämpfe in der Luft, versorgten sich bei Wanderpredigern und Quacksalbern mit Amuletten, Schutzbriefen oder Alraunwurzeln. Vor den Toren der Stadt wurde eine Grube nach der andern ausgehoben, mit Leichen gefüllt, mit Kalk überschüttet, und bald blieben von den über dreitausend Bewohnern nur noch wenige hundert übrig. Die Universität flüchtete nach Herrenberg und Calw, das Stift schloss seine Tore. Die Erinnerung an diese Tage schien Diego noch sehr gegenwärtig zu sein.
    «Alles versank in heillosem Wirrwarr, niemand war für nichts mehr zuständig, und nachdem die Menschen um mich herum wie die Fliegen wegstarben, packte ich meine Siebensachen und floh auf die Alb, wo Luft und Wasser noch rein waren. So kam ich niemals zu meinem Abschlussexamen, und es war nicht einmal so ganz meine Schuld.»
    Da man ihn als ausgewiesenen Tübinger Studiosus in keine Stadt einließ, der Ausbreitungsgefahr wegen, verdingte er sich als Schellenknecht im Leprosenhaus nicht weit von der einstigen Residenzstadt Urach – «Ich kam also vom Regen in die

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