Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
zu Spott und Übertreibung noch nie gesprochen. Dann spürte sie seine Hand auf ihrem Arm.
    «Verzeih mir, Marthe-Marie. Was ich gesagt habe, war dumm. Ich weiß doch, wie übel dir das Schicksal mitgespielt hat, in welch tödlicher Gefahr du warst. Wahrscheinlich fuchst es mich, dass ein anderer dich gerettet hat. Wie gern wäre ich an Jonas’ Stelle gewesen.»
    «Nein, ich bin dumm.» Sie stockte für einen Augenblick. «Wenn ich über die letzten Monate nachdenke, dann sehe ich, dass du genauso viel für mich getan hast wie Marusch. Es gibt keinen Weg zurück, das weiß ich inzwischen, und dass ich darüber nicht verzweifle, liegt an Marusch, und es liegt an dir. Und jetzt erzähl mir die Wahrheit. Bitte.»
    In kargen Worten, als fürchtete er, sie würde ihm sonst keinen Glauben schenken, schilderte Diego an diesem Abend sein Leben, von der ärmlichen Kindheit im schwäbischen Remstal bis zu seiner Begegnung mit Leonhard Sonntag fünf Jahre zuvor.
    Marthe-Marie begann seine schwärmerische Verbundenheit mit dem württembergischen Herrscherhaus zu verstehen, denn nur Herzog Ludwigs Eifer in Schulwesen und Wissenschaften hatte Diego es zu verdanken, dass er, als viertes von sechs Kindern einer Waiblinger Wäscherin und eines trunk- und händelsüchtigen Leinenwebers, Lesen, Schreiben und Rechnen lernen und noch weit mehr: studieren hatte können. Der Waiblinger Stadtpfarrer war auf den begabten Jungen aufmerksam geworden; er hatte sich für ihn eingesetzt und ihn an die Höhere Klosterschule Maulbronn empfohlen. So verließ er als Vierzehnjähriger seine Heimatstadt, die er nur noch einmal, zum Begräbnis seiner Mutter, betreten sollte, um sich vier Jahre lang auf das Studium der evangelischen Theologie am Tübinger Stift vorzubereiten. Er verpflichtete sich gemäß der Klosterordnung zu stillem, bescheidenem, ehrbarem und christlichem Verhalten und vor allem dazu, nach dem Studium in Tübingen in den württembergischen Schul- oder Pfarrdienst einzutreten.
    «Wir lebten in Klausur wie die Mönche, hinter dicken Wehrmauern, abgeschieden von der Welt inmitten von Wäldern, Bächen und Teichen. Im Kloster durfte nur Lateinisch geredet werden, wer dagegen verstieß, landete in der Geiselkammer. Und es gab von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts anderes als Andachten, Unterricht, Auswendiglernen oder Hausarbeiten. Sie stopften uns das Hirn voll mit Poetik und Rhetorik, Logik und Mathematik, mit alten Sprachen und Historie. Sonntags wurden wir dann, zur Erholung, stundenlang im wahren Glauben unterwiesen. Noch heute kann ich dir Hunderte von Stellen aus dem Katechismus im Schlaf hersagen.»
    Wie die anderen Zöglinge auch hatte er unter der Strenge und Reglementierung gelitten, sich vor Heimweh und Sorge um seine Mutter beinahe verzehrt. Doch zum ersten Mal im Leben bekam er ein Bett zum Schlafen, feste Schuhe und warme Kleidung und vor allem zu essen, bis er satt war. «Stell dir vor, gleich in der ersten Woche wurde ich krank, weil ich die fetten Suppen und das viele Fleisch nicht gewohnt war.» Das Schönste aber seien die Theaterproben gewesen, und heimlich habe er daran gedacht, lieber Schauspieler als Pfarrer zu werden.
    In seinem letzten Jahr in Maulbronn begegnete er dann einem Mitschüler, der ihn faszinierte. «Du hast vielleicht von ihm gehört – Johannes Kepler heißt er, ein großer Gelehrter, inzwischen lebt er als Hofastronom des Kaisers in Prag. Ich erinnere mich noch genau, wie ich das erste Mal mit ihm ins Gespräch kam. Er stand unter den weiten Doppelbögen der Kirchenvorhalle, dem Paradies, und er war allein wie immer, denn die anderen verachteten ihn seiner bäuerlichen Herkunft wegen. Vielleicht beneideten sie ihn auch, weil er vom ersten Tag an zu den Besten gehörte. Er murmelte halblaut vor sich, ein seltsamer Vogel war er schon. Ich habe ihn einfach angesprochen und gefragt, was er da rezitiere. Er wurde rot und gestand mir, es sei ein Gedicht, das er selbst verfassthabe. Und dichten konnte er wirklich! Es wurde uns zur Gewohnheit, dass er mir seine Verse vortrug und ich ihn dafür gegen die Pöbeleien der anderen verteidigte. Ich habe auch damals schon gut hinlangen können und mir dadurch von Anfang an Respekt verschafft, denn ich war natürlich in den Augen der andern zunächst auch nur ein Armenhäusler gewesen. Vielleicht wären Kepler und ich Freunde fürs Leben geworden, doch meine Zeit als Klosterschüler ging bald darauf zu Ende. Ich habe es damals fast bedauert – trotz

Weitere Kostenlose Bücher