Die Tochter der Hexe
überraschen, sobald er allein ist.»
Außer Ambrosius gesellten sich alle Männer zu ihnen, selbst dieBuben wollten mit. Im Schutz einiger Büsche kletterten sie den Hang hinauf, Diego mit seinem Arm in der Schlinge vorneweg.
«Das ist schäbig», flüsterte Marthe-Marie. «So viele gegen einen. Ich finde, wir dürfen das nicht zulassen.»
Marusch zuckte die Schultern. «Nach dem vielen Verdruss der letzten Monate sollten wir ihnen diesen kleinen Spaß gönnen. Außerdem hat der Wanderpfaffe eine Abreibung verdient.»
Angespannt wartete Marthe-Marie auf die Schmerzensschreie des Predigers, doch zunächst blieb alles still. Dann hörte sie wütendes Gekeife und sah einen splitternackten, zappelnden, um sich schlagenden Mann auf Maximus’ Schultern. Sonntag holte einen langen Strick, band das eine Ende um einen Baumstamm in Ufernähe, das andere um das Fußgelenk ihres Gefangenen. Anschließend tappte Maximus, barfuß wie er war, bis zur tiefsten Stelle im Fluss und übergab seine Last den Fluten. Der arme Mann spuckte Wasser und Flüche, als er wieder auftauchte, Maximus tauchte ihn abermals unter, dann ließ er ihn los. Der Prediger schrie wie am Spieß, als er von der eisigen Strömung ein Stück mitgerissen wurde, dann klammerte er sich an seinem Strick fest und versuchte, sich ans Ufer zu kämpfen.
«Los geht’s. Wir fahren weiter», rief Sonntag und schwang sich auf seinen Kutschbock. «Und du, Wanderpfaffe, kannst dir deinen Eselskarren samt Kleidern im nächsten Dorf abholen, falls du es schaffst, dich loszubinden.»
Nachdem sie Urach verlassen hatten, waren sie weiter westwärts gezogen, über die raue, schroffe Landschaft der Alb. Ihr Weg führte sie vorbei an Kegeln erloschener Vulkane und an zerklüfteten, in der Sonne gleißenden Felswänden mit tiefen Höhlen, durch verkarstete Trockentäler, dichte Buchenwälder und endlose Hochflächen mit Wacholdersteppe und Heidekraut. Dann wieder fuhren sie stundenlang durch Felder mit Flachs, dem Einzigen, was diekargen, wasserarmen Böden herzugeben schienen. Wie herrlich das im Sommer aussehen muss, dachte Marthe-Marie, wenn sich die Felder tiefblau bis zum Horizont erstrecken.
Doch jetzt, obwohl der Mai bereits zu Ende ging, war hier oben in den Bergen von lauen Sommerlüften nichts zu spüren. Die Nächte blieben kalt. Und was sonst für reichlich Einnahmen sorgte, nämlich die lange Helligkeit in dieser Jahreszeit, nutzte ihnen in der Einsamkeit dieses Landstrichs nichts. Die wenigen Dörfer, auf die sie stießen, waren ärmlich, ihre Bewohner wortkarg und verschlossen.
«Ganz im Sinne von Matthäus 5, Vers 37», spöttelte Diego. «Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.»
Wie eine Herde Schafe, die das nahende Gewitter fürchtet, schlossen sich die Hofstätten mit ihren strohgedeckten Häuschen eng zusammen, in ihrem Mittelpunkt die lebensnotwendige Hülbe, ein Wasserloch, in dem sich Regenwasser sammelte und das als Viehtränke und Feuerteich diente. Fremde mochte man hier noch weniger als andernorts, und sie konnten froh sein, wenn hin und wieder die Musikanten auf einer Bauernhochzeit oder vor dem Dorfschultes spielen durften. Überhaupt schien dem Menschenschlag hier auf der Alb nicht viel an Feiern, Tanz und Unterhaltung gelegen. Aus den drei, vier größeren Marktflecken, die sie passierten, wurden sie erbarmungslos verjagt, und einmal bekam Sonntag bei seinen Bittgängen, wie er es inzwischen nannte, sogar die Rutenschläge der Büttel zu spüren.
Zulauf hatte einzig Ambrosius mit seiner neuen Methode der Wundheilung, die er in Urach in aller Heimlichkeit einem Bader abgeguckt hatte. Dazu legte er auf die offene Wunde eine kleine Tasche aus durchlässigem Tuch, die mit Maden gefüllt war, mit den fetten, gefräßigen Maden der Schmeißfliege. Meist schon nach wenigen Tagen begannen selbst härtnäckig entzündete Wundenoder offene Beine zu heilen. Worin genau der Heilungsprozess bestand, konnte der Arzt keinem sagen, er hatte lediglich beobachtet, dass sich nach Einsetzen der ekligen Tiere die abgestorbenen Wundränder verflüssigten und die Wunde plötzlich sauber wurde. Seiner Vermutung nach sonderten die Maden ein Secretum ab, zugleich ernährten sie sich wohl von dem Wundgewebe.
Kopfschüttelnd beobachteten die Spielleute die Erfolge ihres Medicus, die sich wie ein Lauffeuer herumsprachen. An manchen Tagen reihten sich Dutzende von Hilfesuchenden vor seinem Karren ein, wo immer er auftauchte.
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