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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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klaren grünen Augen fand sich keine Spur von Müdigkeit. Unsicher erwiderte sie seinen Kuss, dann sah sie zu Boden. «Warst du schon beim Prinzipal?»
    Er nickte. «Er hat mir großmütig verziehen. Dieses eine Mal wenigstens noch. Falls es allerdings wegen mir noch einmal zu einem Zwischenfall käme, würde er mich vor aller Augen vierteilen und rädern. Jetzt kann ich nur hoffen, dass uns der gute Herzog auf der Reise nach Ulm nicht noch einmal über den Weg läuft.» Er nahm ihre Hand. «Was schaust du so? Zahnschmerzen?» Der übermütigeAusdruck verschwand aus seinem Gesicht, und er fragte leise: «Bereust du, was letzte Nacht geschehen ist?»
    «Nein, das ist es nicht. Hast du schon zu Morgen gegessen? Ich habe gehört, wir brechen gleich auf.»
    «Das stimmt. Dieses Mal hat sich Sonntag nicht mit mir, sondern mit Marusch und Salome beraten – und unsere Prophetin hat in ihrem Kristall wohl entdeckt, dass die Ulmer Bürger uns mit Gold und Silber überschütten werden.»
    Dann runzelte er die Brauen. «Es ist wegen Ulm, nicht wahr? Jonas.» Er ließ ihre Hand los, als habe er sich verbrannt. «Ich muss beim Einspannen helfen. Wir sehen uns später.»
    Marthe-Marie bekam ihn den ganzen Tag über nicht mehr zu Gesicht, und das war ihr gar nicht unrecht. Gemeinsam mit Marusch kutschierte sie den Wohnwagen, vor ihnen fuhr der Requisitenwagen mit Diego und an der Spitze Leonhard Sonntag.
    Marusch warf ihr einen Blick von der Seite zu. «Du bist nicht sehr redselig heute. Machst du dir Gedanken wegen dem, was dich vielleicht in Ulm erwartet?»
    Marthe-Marie nickte.
    «Du solltest abwarten. Womöglich ist Jonas gar nicht nach Ulm gegangen. Die berühmten ungelegten Eier, du weißt doch.» Marusch trieb das Maultier in schnelleren Schritt. «Und falls deine Schweigsamkeit auch ein klein wenig mit Diego zu tun haben sollte – denk nicht zu viel nach. Morgen ist auch noch ein Tag, und nächste Woche sind es sogar sieben.»
     
    Bereits am Nachmittag erreichten sie die freie Reichsstadt Reutlingen, die wie eine Insel mitten im Herzogtum Württemberg lag. Düster und bedrohlich sahen sie hinter den Türmen die Gipfel und Bergrücken der Schwäbischen Alb in regenschwere Wolken ragen. Ganz offensichtlich würde das Wetter bald umschlagen.
    Sie umrundeten die Mauern der Stadt, die für eine Reichsstadtrecht klein und auf den ersten Blick nicht gerade wohlhabend wirkte. Der Stadtwächter im Tübinger Tor hatte ihnen einen Lagerplatz in einem verlassenen Weingarten zugewiesen, und auf dem Weg dorthin kamen sie erst an einer verfallenen Mühle, dann an einer eingestürzten Brücke vorbei. Niemand schien sich die Mühe machen zu wollen, die Bauwerke wieder instand zu setzen.
    «Mit allzu viel Wohlstand scheint diese Stadt nicht gesegnet zu sein», hatte Marusch gerade geunkt, als sie die Narrenkiste entdeckten, die unmittelbar neben dem Oberen Tor platziert war. Der Holzverschlag war nach einer Seite hin offen und mit einem schweren Gitter versehen, um dessen Streben sich zwei schrundige kleine Hände klammerten. Voller Anteilnahme betrachtete Marthe-Marie den halb nackten, in Eisen gelegten Tollhäusler, der jetzt mit verzerrtem Gesicht um ihre Aufmerksamkeit keifte und dabei wie Pantaleons Äffchen mit dem Hintern in die Höhe hüpfte. Ganz offensichtlich wurde er zur Schau gestellt, um in der Obhut des Torwächters die Passanten um Almosen zu erleichtern. Und tatsächlich war der kleine Topf neben dem Käfig nicht schlecht mit Münzen gefüllt. Zuletzt hatte Marthe-Marie so etwas am Hochrhein gesehen, und sie war damals eben so bestürzt gewesen von dem Anblick wie jetzt.
    «Warte mal eben», bat sie Marusch.
    Sie sprang vom Kutschbock und warf eine Münze in den Topf. Dabei hielt sie sich die Nase zu, denn das verdreckte Stroh zu Füßen des Schwachsinnigen stank unerträglich nach Urin, Kot und Erbrochenem.
    «Warum bringt man den armen Kerl nicht im Spital unter?», fragte sie Marusch, als sie zum Wagen zurückkehrte.
    «Weil dort niemand für ihn bezahlen würde. Hier erregt er wenigstens das Mitleid solcher Menschen wie dir und sorgt auf diese Weise selbst für seinen Unterhalt.»
    «Oder für den Spott von Burschen wie denen da.»
    Eine Gruppe Halbwüchsiger hatte sich der Kiste genähert und bewarf den Gefangenen mit Pferdeäpfeln. Aus sicherer Entfernung sah der Torwächter ihnen zu, stumm und ungerührt. Als einer der Burschen seinen Hosenschlitz öffnete und dem vor Angst und Wut schreienden Irren vor die Brust

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