Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
selben Abend noch überredeten sie den Prinzipal, am nächsten Tag machten sie sich ans Proben. Es zeigte sich, dass Diego alles längst vorbereitet hatte: Er hatte Shakespeares Drama aus dem Kopf auf Papier gebracht, nach Gutdünken gekürzt und bearbeitet. Von Requisite und Dekoration, Maske und Musik hatte er ebenfalls schon feste Vorstellungen. Leonhard Sonntag blieb nur noch, die übrigen Rollen zu verteilen, wobei Marusch zu seinem Entsetzen ebenfalls eine Rolle forderte: «Wenn schon, denn schon. Und wer könnte die Gräfin Capulet besser spielen als ich?»
    Sie beschlossen, ihr Publikum am letzten Tag des Festes mit «Romeo und Julia» zu überraschen. Sollte der Magistrat sie danach vom Acker jagen, wäre nicht viel verloren.
    Am nächsten Tag erschien Tilman mittags mit einem blauen Auge im Lager – die Rache des kleinen einheimischen Fremdenführers und seiner älteren Brüder   –, und Mettel kehrte nicht von ihrem allmorgendlichen Rundgang zurück. Sie warteten noch bis zum Angelusläuten, dann setzten sie sich zusammen, um zu beratschlagen.
    Sonntag sah in die Runde. «Weiß jemand, wohin sie morgens immer unterwegs ist?»
    «Wenn sie Geld von uns bekommen hat», antwortete Tilman und rieb seine schmerzende Wange, «geht sie zum Markt und zu den Verkaufslauben im Rathaus.»
    «Gut. Wohin noch?»
    «In den Wald beim Blautopf, um Sauerklee und Waldmeister zu sammeln», murmelte Marthe-Marie. «Mein Gott, ihr wird doch nichts am Wasser geschehen sein?»
    Marusch dachte nach. «Gestern kam sie etwas später als sonst. Sie ist noch ein Stück die Blau entlanggegangen, um an den Uferwiesen Kräuter und Löwenzahn zu pflücken.»
    «Dann machen wir uns jetzt auf den Weg. Die Kinder gehen mit Lambert und Anna in die Stadt und fragen dort nach. Marusch, Marthe-Marie, Diego, Valentin, Severin und ich suchen die Umgebung ab. Die Übrigen bleiben im Lager. Ja, auch du, Maximus.»
    Rund um den Blautopf war keine Menschenseele zu sehen. Sie marschierten die jungfräuliche Blau flussaufwärts, bis sie bei der Klostermühle auf einen älteren, kahlköpfigen Mann trafen, der sich als Abt der Klosterschule herausstellte.
    Sonntag grüßte ehrerbietig.
    «Wir suchen eine ältere grauhaarige Frau – sie war in letzter Zeit morgens zum Kräutersammeln hier.»
    «Wenn Ihr zu den Spielleuten gehört, meint Ihr sicher Frau Mettel.»
    «Ihr kennt Sie?»
    «Wir haben uns am Blautopf kennen gelernt. Eine sehr angenehme Frau. Wir sind über ihr profundes Wissen zu Küchen- und Heilkräutern ins Gespräch gekommen und haben uns die letzten Tage jeden Morgen nach der Terz zu einem kleinen Plausch getroffen. Heute allerdings habe ich sie nicht gesehen.»
    Das ungute Gefühl, das Marthe-Marie ergriffen hatte, verstärkte sich. «Wenn ihr hier in Klosternähe etwas zugestoßen wäre, hätte man ihre Hilferufe gehört?»
    «Ganz bestimmt. Ihr denkt an den Blautopf? Frau Mettel hielt zum Ufer immer gehörigen Abstand. Schon aus Respekt vor der schönen Lau.» Er lächelte. «Sie wird flussaufwärts gegangen sein, vielleicht weiter als sonst, an diesem herrlichen Tag. Oder sie ist längst zurück im Lager.»
    «Nun gut, gehen wir noch ein Stück weiter. Behüte Euch Gott!»
    «Behüte Euch Gott, und grüßt Frau Mettel von mir.»
    Wäre der Anlass nicht so Besorgnis erregend gewesen – Marthe-Mariehätte sich keine beeindruckendere Umgebung für einen Spaziergang vorstellen können. Das klare Flüsschen schlängelte sich trotz seiner Wasserfülle in stillem Lauf durch eine völlig flache Talsohle. Dichtes Schilf und Riedgras boten Wasservögeln und Enten Schutz, die jetzt empört aufflogen, als sie mit geschürzten Röcken und Hosenbeinen das niedrige Ufer durchkämmten. Ihre Rufe hallten von den Felswänden wider, die schroff und unvermittelt aus dem Talgrund Richtung Himmel ragten.
    Und plötzlich empfand sie diese zerklüftete Felsenlandschaft mit ihren Zacken und Nadeln, Türmen und Toren zunehmend als bedrohlich. Ihr Auge begann Fratzen von wilden Tieren und Ungeheuern auszumachen, ähnlich den Wasserspeiern am Konstanzer und Freiburger Münster, sie entdeckte verzerrte Gesichter mit leeren Augenhöhlen und aufgerissenen Mäulern.
    Valentin und Severin kletterten die steilen Hänge hinauf, hangelten sich geschickt an Felsvorsprüngen und Wurzelwerk entlang, riefen dabei immer wieder Mettels Namen; doch das Tal der Blau lag, von den Suchenden abgesehen, vollkommen verlassen in der Mittagssonne. Es war Diego, der Mettels

Weitere Kostenlose Bücher