Die Tochter der Hexe
ausgestrahlt.
Mit letzter Kraft schlug er gegen die Tür, als er den Blick in seinem Nacken spürte wie eine Berührung. Er fuhr herum. Eine hagere Gestalt, schemenhaft nur erkennbar, doch deutlich schmächtiger als Diego, stand wenige Schritte vor ihm im tosenden Regen. Ohne das Gesicht des anderen wirklich sehen zu können, spürte Jonas wieder diesen Blick. Eiskalter Schrecken packte ihn, als der andere langsam zurückwich, sich umwandte und mit kurzen, hinkenden Schritten in der Dunkelheit verschwand. Das konntenicht sein! Marthe-Maries Verfolger, ihr Widersacher, dieser Teufel – er war doch tot, vor seinen Augen in den Fluten der Kinzig ertrunken!
In diesem Moment öffnete Kargerers Dienstmagd die Tür. Sie stieß einen spitzen Schrei aus.
«Um Himmels willen, der Herr Jonas! Kommt schnell herein! Ihr seht aus, als wäret Ihr durch die Donau geschwommen. Und Ihr glüht ja! Ihr müsst sofort zu Bett. Wartet, ich helfe Euch hinauf.»
Unwirsch lehnte Jonas den dargebotenen Arm ab. Er kam noch bis zur Schwelle seiner Kammer, dann stürzte er und versank in einem Strudel aus Schwärze und grellem Licht.
Fünf Tage lag Jonas zwischen Wachen und Schlafen, sein Körper kämpfte schweißüberströmt gegen das heftige Sommerfieber, bis er am Morgen des sechsten Tages endlich mit klarem Verstand erwachte. Seine Glieder waren zwar noch matt, wie nach einem anstrengenden Fußmarsch, doch er fühlte, wie das Leben in ihn zurückkehrte. Nach einer kräftigen heißen Fleischbrühe wagte er aufzustehen.
«Waren in der letzten Zeit Gaukler in Ulm?», fragte er die Dienstmagd.
«Ja, Komödianten und Artisten. Leider hat unser Herr mir nicht freigeben wollen.»
Also war Diego kein Hirngespinst gewesen! Augenblicklich begann sein Herz schneller zu schlagen. Er musste Marthe-Marie wieder sehen, jetzt sofort. Als er sich in aller Hast ankleidete, fiel ihm die Begegnung mit dem hinkenden Fremden ein – war auch das Wirklichkeit gewesen oder ein Fiebertraum?
Als er den Münsterplatz erreichte, waren weder Wagen noch Gaukler zu sehen. Er fragte einen Knaben, der mit einem Korb voller Brezeln unter dem Arm an ihm vorbeilief.
«Ach, die sind längst weitergezogen. Es hat wohl Ärger gegeben, einige von ihnen sollen geklaut haben wie die Raben. Schade eigentlich, ihr Schauspiel von Romeo und Julia hätte ich gern gesehen.»
33
Nun habe ich es geschafft! Ich habe das Höchste erreicht, was ein Vertreter meines Standes überhaupt erreichen kann: Nicht länger Werkzeug bin ich, sondern Richter über Leben und Tod. Noch heißt man mich Jungmeister, grüß Gott, der Herr Jungmeister Wulfhart, doch bald werde ich mich Meister nennen können, Meister Wulfhart von Biberach. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Alte von seiner schweren Gicht zum Krüppel gemacht wird – mag er sich selbst noch so häufig die Haut unserer Delinquenten als Arznei verabreichen! Und Söhne, denen Meister Stoffel sein Amt vererben könnte, haben er und sein hässliches Weib nicht zustande gebracht.
Ihr wäret so stolz auf mich, Meister Siferlin! Die Biberacher Scharfrichter sind im ganzen Land berühmt und gefürchtet. Und nicht den Befehlen der Gerichtsherren folgen wir oder lassen uns gar, wie im nahen Ulm, von hergelaufenen Bütteln und minderwertigen Beamten auf die Finger klopfen, nur weil den Ratsadvokaten oder den Gutachten der Juristen mehr Gewicht beigemessen wird als den Aussagen, die wir den Delinquenten entlocken. Wir Biberacher Scharfrichter werden nicht umsonst so häufig um Rat gebeten und nach weithin berufen, um einen ins Stocken geratenen Prozess wieder in Gang zu bringen: In die Fürstpropstei Ellwangen, in die Hochstifte Augsburg und Freising, in die fürstbischöfliche Residenzstadt Dillingen und in die Prämonstratenserabtei Obermarchtal – wohin hat man mich nicht schon berufen.
O ja, vor allem die geistlichen Herren nehmen unsere Kunst gern in Anspruch. Die wissen, dass wir mit Hexen umgehen können. Die haben erkannt, dass die Prozesse mit uns die richtige Richtung nehmen. Aber auch andernorts hat man immer weniger Vertrauen in die Arbeit der eigenen Henker, alle holen sie jetzt uns. Es ist eine Kunst, die Tortur, eine hohe Kunst. Da muss ich vor Meister Stoffel den Hut ziehen, selbst ich habe bei ihm dazugelernt! Und mit unserer Kunst führen wir die Beklagten in beinahe allen Verfahren zum Geständnis, damit das Hochgericht vollzogen werden kann.
Ja, wir sind wahre Meister in der Kunst zu martern, ohne zu töten.
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