Die Tochter der Hexe
voller Freude ihren Müttern in die Arme, Leonhard Sonntag erhob sich.
«Wo wart ihr? Und wie seht ihr überhaupt aus?» In seinem vorwurfsvollen Ton schwang aufrichtige Sorge mit.
«Morgen», sagte Marusch nur. «Morgen erzählen wir euch alles. Ich gehe schlafen.»
«Ich komme mit», sagte Marthe-Marie. Als Diego ihr folgen wollte, hob sie abwehrend die Hand, schüttelte den Kopf und ließ ihn stehen. Sie hatte nur noch einen Wunsch: sich auf ihrem Strohsack auszustrecken, die Decke über den Kopf zu ziehen und nichts mehr hören und sehen zu müssen.
In dieser Nacht hatte sie einen seltsamen Traum. Sie thronte auf einem mannshohen, hölzernen Podest. Einer Fürstin gleich trug sie ein prächtiges Gewand; es war ein grünes Brokatkleid mit Reifrock, Mühlsteinkrause und Schleppe. Unter ihr, auf einer ovalen Sandbahn, kämpften wie in längst vergangenen Zeiten Diego und Jonas gegeneinander, mit Lanzen und auf schweren Streitrössern, jedoch ohne den Schutz einer Rüstung.
Zu ihrer Linken stand Raimund Mangolt, ihr Ziehvater, und legte ihr die Hand auf die Schulter. «Nimm denjenigen zum Mann, der diesen Kampf gewinnt. Du brauchst einen Beschützer.»
Da trat ihre Mutter neben sie. Sie sah jung und betörend aus in dem Kleid aus hellem, leichtem Taft und dem kunstvoll hochgesteckten, mit Perlen besetzten Haar.
«So reden Männer.» Catharina lächelte halb spöttisch, halb liebevoll. «Beende diesen unnötigen Kampf und lass dein Herz entscheiden.»
«Aber ich weiß nicht – wen soll ich –»
Ihre Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. «Du hast dich längst entschieden, doch Trotz hat dich blind gemacht. Glaube mir, glaub mir bitte: Du kannst weder meinen Tod vergelten, noch darfst du dich schuldig fühlen. Was geschehen ist, ist geschehen. Du sollst leben und glücklich sein.»
Marthe-Marie sah zu Jonas. Für einen kurzen Augenblick verschmolzen ihre Blicke, voller Zuneigung und Wärme, dann durchbohrte Diegos Lanze Jonas’ Brust. Stumm, mit ungläubigem Blick, glitt er vom Pferd, mit ihm Diego, der auf gleiche Weise von Jonas Waffe getroffen war. All das geschah vollkommen lautlos: Beide Männer lagen im Sand, aus ihrer Brust schoss in kräftigem Schwall purpurrotes Blut, das rasch zu einem Strom anstieg, in dem beide versanken. Immer höher stieg die dampfend heiße Flut, reichte bald bis an den Rand des Podests; da sah sie erst einen Arm, dann ein Gesicht aus den Fluten ragen: Es war die verzerrte Fratze eines jungen Mannes mit rot entzündeten Augen und einer wulstigen Narbe quer über der Oberlippe. In diesem Moment erwachte sie von ihrem eigenen gellenden Schrei.
32
Die Reise nach Ravensburg war erfolgreich gewesen. Mit Mürlin war er sich schnell einig geworden; ein Handschlag hatte genügt, und seine Anstellung war unter Dach und Fach. Und damit auch seine Zukunft. Spätestens im August würde er nach Ravensburg ziehen, um dort nach den Sommerferien als Schulmeister zu beginnen.
Mürlin hatte versprochen, ihm bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich zu sein, ebenso bei den zahlreichen Formalitäten, die die Niederlassung in einer neuen Stadt mit sich brachten. Das Dekanat würde ihm ein geringes Grundgehalt zahlen, darüber hinaus musste er sich selbst darum kümmern, jedes Vierteljahr bei seinen Zöglingen die fünf Schillinge Schulgeld einzutreiben. Mürlin hatte ihn gewarnt: Das sei oft schwieriger, als einen Esel vom Futtertrog wegzulocken. Doch Jonas schreckte das nicht. Er hatteein gutes Gefühl mit seinem Mentor und künftigen Kollegen, allein das zählte. Außerdem hatte ihm die geschäftige Handelsstadt am Fuße der Ravensburg auf Anhieb zugesagt. Sie war um einiges kleiner als Ulm, hatte sich aber dank des Fleißes ihrer Handwerker und der Erfolge der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft zu einer der führenden Fernhandelsstädte im Bodenseeraum entwickelt. Leinwand aus Oberschwaben wurde in ganz Europa abgesetzt, Handel bis nach Italien, Spanien, Frankreich, Holland, Polen und Ungarn getrieben. Auch in der Papierherstellung, Lederverarbeitung und im Weinbau hatte sich die Stadt einen Namen gemacht. Überdies gefiel ihm, dass Ravensburg sich für konfessionelle Parität entschieden hatte und damit zu den insgesamt nur vier Städten im Reich gehörte, in denen Katholiken und Protestanten gleichermaßen an der städtischen Politik beteiligt waren.
Gerade noch rechtzeitig vor Torschluss erreichte er nun wieder Ulm. Für einen Junitag war es ungewöhnlich heiß, ja
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