Die Tochter der Hexe
Finger seiner verschränkten Hände bewegten sich. Es schien, als würde der alte Mann einen schweren Kampf mit sich ausfechten. Die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten, und die Stille zwischen ihnen nahm ihr fast die Luft zum Atmen. Doch sie wartete ab.
«Ich habe es geahnt von dem Moment an, als ich dich an der Pforte des Seelhauses sah. Aber ich wollte es nicht wahrhaben.» Er schüttelte den Kopf, als könne er es noch immer nicht glauben. «Du bist also gekommen, deinen Vater kennen zu lernen. Du bist meine Tochter.»
Endlich war es ausgesprochen. Nicht nur Marthe-Marie fühlte, wie sich ein Knoten in ihrem Innern löste. Auch Hofer schien sich zu entspannen. Er lächelte.
«Es ist, als ob eine längst vergessen geglaubte Zeit wie ein offenes Buch vor mir liegt. Du siehst ihr so unvorstellbar ähnlich.» Wieder schüttelte er den Kopf. «Du musst wissen – ich hatte immer geahnt, dass Catharina heimlich ein Kind zur Welt gebracht hatte, ein Kind, dessen Vater ich war. Sie war damals von einem Tag zum andern verändert, als ob eine schwere Last auf ihr läge. Ihr ganzer Lebensmut schien wie weggeblasen. Sie war plötzlich so verschlossen, fast verstockt, und ich habe mit ihr gestritten, sie beschimpft. Dann war sie lange Zeit verschwunden, bei ihrer Freundin und Base im Elsass. Angeblich, um ihre Anfälle von Melancholie zu kurieren. Aber Catharina war niemals schwermütig gewesen. Als sie zurückkam, wollte sie mich nicht mehr sehen, und ich ging fort, nach Offenburg. Im Elsass hat sie dich also zur Welt gebracht und dort gelassen. Ist es so?»
Marthe-Marie nickte nur.
«Warum nur hat sie mir niemals die Wahrheit gesagt?» Seine Stimme klang müde. «Dafür habe ich sie in meiner Verzweiflung lange Zeit gehasst. Erst viel später begriff ich, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Wir hatten die Ehe gebrochen; ihr Mann hätte alles getan, uns zu vernichten. Und dich auch.»
Er stand auf und nahm ihre Hand. «Dir ist es nicht gut ergangen in der letzten Zeit, das sehe ich dir an. Du musst mir so vieles erzählen. Aber jetzt bin ich sehr müde. Versprichst du mir, dass du morgen Mittag wiederkommst, zusammen mit deiner Tochter?»
Wieder nickte sie nur.
«Gut. Benedikt wird dich abholen.»
Am nächsten Vormittag standen sie viel zu früh am Rand der Landstraße, nicht weit von ihrem Lager. Agnes hüpfte vor Aufregung;sie freute sich vor allem auf ihre neue Freundin, die Magd Johanna, die sie am Vortag mit so viel Kuchen und Naschwerk voll gestopft hatte, dass sie in der Nacht mit Bauchgrimmen aufgewacht war. Marthe-Marie hingegen wartete stumm, fast schicksalsergeben auf Benedikt. Eine einzige bange Frage drehte sich in ihrem Kopf: Was würde sie im Hause Hofer erwarten?
Mit Marusch hatte sie, seit dem heimlichen Besuch bei ihrem Vater, kaum ein Wort gewechselt. Ihre Freundin hatte auch andere Sorgen: Die Existenz der Truppe stand auf dem Spiel. Zuerst hatten sich am Vorabend völlig überraschend die drei Musikanten verabschiedet: Die Stadt Ravensburg habe ihnen eine Anstellung als Paukenschläger und Stadtpfeifer angeboten, die auszuschlagen reine Torheit wäre. Am Morgen dann war Quirin verschwunden. Er hatte seinen ausgemergelten Esel dagelassen und stattdessen das kräftigste Maultier der Truppe gestohlen. Salome war mit ihm gezogen. Keiner hatte je bemerkt, dass die beiden ein Paar gewesen waren. Zurück blieb eine mittelmäßige, abgerissene Komödiantentruppe, ohne Musikanten und ohne jede Attraktion, die schwerlich einen Zuschauer hinter dem Ofen hervorzulocken vermochte.
«Die Ratten verlassen das sinkende Schiff», hatte Sonntag nur gemurmelt und war in seinen Wagen verschwunden, gefolgt von Marusch. Marthe-Marie hatte sie noch nie so ratlos gesehen.
Sie zog ihren Umhang enger zusammen, denn ein eisiger Wind fuhr plötzlich die Straße entlang. Dann sah sie ihn kommen. Schon von weitem winkte er ihnen zu. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass der junge Benedikt ihr Halbbruder sein sollte. Wie selbstbewusst er wirkt, dachte sie, und dabei ganz ohne Standesdünkel. Ob er die Wahrheit wusste? Plötzlich bereute sie ihren Wagemut vom Vortag und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Hätte man das Rad der Zeit zurückdrehen können – sie hätte es getan.
«Ich hoffe, ihr beiden habt großen Hunger», sagte Benedikt zur Begrüßung und strahlte über das ganze Gesicht. «Johanna ist den ganzen Morgen in der Küche gestanden – das verheißt nur Gutes.»
Er warf einen Blick zum
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