Die Tochter der Hexe
Gesichter dieser fremdartigen Menschen, in deren Schutz sie sich begeben hatte. Boten sie wirklich Schutz? Nehmt euch in Acht vor Gauklern und Zigeunern, hatte die Dienstmagd ihnen als Kinder gepredigt, die klauen euch die Beine unterm Hintern weg, ohne dass ihr es merkt. Und sie und ihre Geschwister hatten sich wohlig gegruselt bei den Schauergeschichten, die die Magd über die fahrenden Leute erzählt hatte. Jetzt, im Dunkel der Nacht, kämpfte sie an gegen ein Gefühl von Beklommenheit und Misstrauen gegenüber diesen Leuten.
Vielleicht war ihr Entschluss zu überstürzt gewesen, wie schon häufiger. Aber hätte es eine andere Möglichkeit gegeben? Sie hoffte inbrünstig, mit Agnes wohlbehalten an ihr Ziel zu gelangen, in die freie Reichsstadt Offenburg.
7
Was sie in den nächsten Tagen über ihre Begleiter erfuhr, stärkte nicht eben ihr Vertrauen in diesen bunten Haufen.
Da waren zum Beispiel die beiden jungen Männer aus LeonhardSonntags Truppe, Valentin und Severin, die so wunderbar auf den Händen laufen konnten, als sei dies das Natürlichste der Welt. Sie steckten immer zusammen, tuschelten und lachten miteinander wie zwei Marktweiber und verhielten sich auch sonst für Marthe-Maries Begriffe oft recht befremdlich. Über Severin, den Jüngeren der beiden, erfuhr sie, dass sein Vater ihn im Alter von neun oder zehn Jahren als Lernknecht an Rheinschiffer verkauft hatte. Dort wurde er gefangen gehalten wie ein Tier, übel traktiert und geschlagen, bis er schließlich weglief. In Straßburg, wo er sich mit Betteln am Leben hielt, traf er auf einen Gaukler, der ihn Seiltanz und Akrobatik lehrte. Nachdem er auch bei seinem neuen Lehrherrn mehr Prügel als Brot zum Lohn bekam, floh er nach Köln. Dort wurde er schließlich bei einem Einbruch ertappt und landete im Turm. Nur seines jungen Alters wegen und weil er aus Hunger zum Dieb geworden war, hatte ihn der Magistrat begnadigt, mit der Auflage, die Stadt Köln nie wieder zu betreten.
Oder Pantaleon, der Besitzer des Kamels Schirokko und zweier Äffchen, ein hässlicher Kerl mit schwarzer Augenklappe, unter der angeblich ein tiefes Loch klaffte. Vor Jahren sei ihm von seinem Tanzbär das linke Auge ausgekratzt worden, daraufhin habe er das Tier erschossen und drei Tage und drei Nächte lang geweint.
Dem Messerwerfer und Feuerschlucker Quirin, der als Tierquäler verschrien war, ging Marthe-Marie vom ersten Moment an aus dem Weg. Fast ebenso unheimlich war ihr Salome, die Zwergin mit dem spitzen Buckel, der noch gewaltiger wirkte, wenn sich ihr zahmer Rabe darauf niederließ. Salome trat als Wahrsagerin und Handleserin auf; sie konnte mit schwarzem Papier oder aus ihrer Kristallkugel die Zukunft vorhersagen und mit Hilfe eines Zaubersiebs gestohlenes Gut wieder auftauchen lassen. Den Eingang ihres schwarzen Zeltes hatte sie mit geheimnisvollen Zeichen und magischen Quadraten bemalt, und ihr Geschäft lief immerbestens. Allerdings hatte sie auch schon etliche Tage und Wochen ihres Lebens im Kerker verbracht.
All diese Geschichten erfuhr sie von Marusch während ihrer Fahrten über die holprigen Landstraßen. Nicht dass die Prinzipalin – und das war sie in Marthe-Maries Augen, denn bei wichtigen Entscheidungen hatte stets sie das letzte Wort – von sich aus geschwatzt und getratscht hätte. Vielmehr gab sie auf Marthe-Maries Fragen freimütig Auskunft, nicht mehr und nicht weniger, und Dinge, die sie nicht verraten durfte oder wollte, behielt sie eisern für sich.
Don Diego hingegen hielt mit seinen Sympathien und Antipathien weniger hinter dem Berg. «Um Quirin machst du besser einen großen Bogen, der ist jähzornig. Einmal hat er einen Gassenkehrer von oben bis unten aufgeschlitzt, bloß weil der ihn Pferdfresser geschimpft hatte.»
Meistens schilderte er seine Geschichten in so grellen Farben, dass Marthe-Marie ihm schließlich gar nichts mehr glaubte. Im Übrigen stand ihr Urteil über ihn fest: Er besaß das Selbstbewusstsein eines Mannes, der um seine Wirkung wusste und durch nichts zu verunsichern war. Denn schön war er, mit seinen dunklen Locken und den männlichen Gesichtszügen, die ein ganz klein wenig schief geschnitten waren, was sein Lächeln aber nur noch anziehender machte. Ein Lächeln, das immer auch in seinen Augen strahlte und mit dem er Frauen wie Männer betörte.
Mit Vorliebe zog er über den fahrenden Wundarzt Ambrosius her, diesen dünnen, zu klein geratenen Mann, der fast so bucklig wie Salome war. Mit seinem strähnigen Haar
Weitere Kostenlose Bücher