Die Tochter der Hexe
vom Tor der markgräflich badischen Stadt Emmendingen. An diesem Abend saßen sie nicht lange zusammen, denn kaum hatten Mettel und Marthe-Marie begonnen, die Suppe zu verteilen, begann es zu regnen. Die Männer brachten über ihren Gerätschaften rasch die Zeltplanen an, dann verschwanden alle nach und nach in ihren Wagen oder unter ihren Regenschutz.
Marthe-Marie lag mit Agnes im Arm auf ihrem Strohsack und lauschte denTropfen, die auf die Plane des Fuhrwerks prasselten, als sich Marusch mit einer Lampe durch den engen Gang zwängte.
«Ich bringe dir noch eine Decke», flüsterte sie. «Bei der Feuchtigkeit kann es heute Nacht kalt werden. Warte, ich bin gleich wieder da.»
Sie kehrte zurück mit einem Krug Wein und zwei Bechern.
«Das hier hilft zusätzlich gegen Kälte. Trinkst du einen Schluck mit mir?»
«Gern.» Marthe-Marie richtete sich auf.
Marusch schenkte ihnen ein. «Agnes ist schon ein richtiges kleines Gauklerkind. O Jesses, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich habe vergessen, dass du aus einer angesehenen Soldatenfamilie stammst.»
«Ach was, ich habe mich doch schon richtig an euch gewöhnt. Na gut, wenn ich ehrlich bin, am Anfang waren mir deine Freunde ein wenig unheimlich. Man hört es ja überall, dass es bei den Gauklern von Dieben, Mordbrennern und Kindesentführern nur so wimmelt.»
Marusch unterdrückte ihr lautes Lachen, um Agnes nicht zu wecken. «Unheimliche Gestalten findest du bei uns genug. Schau nur mal diesen Feuerfresser an oder unseren gelehrten Medicus. Übrigens: Ich wollte dich wirklich nicht kränken heute Mittag, als ich den Kutscher fragte, ob er dich mitnehmen würde. Es war mehr ein Spaß. Weil ich doch weiß, dass du ein anderes Leben gewohnt bist, als in ungefederten Fuhrwerken über Feldwege zu holpern und dann auch noch darin zu übernachten.» Sie löschte die Lampe, um das kostbare Unschlitt zu sparen. «Und das ist auch das Einzige, was ich von dir weiß. Leider.»
«Ich verstehe. Du kommst mit Wein, um mir meine Geschichte zu entlocken.»
«Pallawatsch und Mumpitz!» Marusch schüttelte den Kopf, dass die Ohrringe klirrten. «Ich will dir nichts entlocken, was du nicht aus freien Stücken sagen magst. Und normalerweise kümmert mich von niemandem die Vergangenheit, solange er sich an unsere Regeln hält. Ich möchte nur nicht, dass du in Gefahr gerätst.»
«Dann will ich dich beruhigen. Ihr habt mir aus Freiburg herausgeholfen, bald bin ich in Offenburg. Mir droht also keine Gefahr mehr.»
«Das ist es ja, gar so bald sind wir nicht in Offenburg. Die Freiburger Häscher könnten dich verfolgen. So langsam, wie wir uns durch die Lande bewegen, ist es ein Kinderspiel, uns aufzuspüren.»
Marthe-Marie schwieg. Dann flüsterte sie: «Warum sollte man mich verfolgen?»
«Salome sagt, man hätte dich in Freiburg der Hexerei und Teufelsbuhlschaft bezichtigt.»
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Marthe-Marie starrte in die Dunkelheit. Wie hatte sie glauben können, dass sie mit ihrer Flucht aus Freiburg diesen Verdacht auf immer loswerden könnte.
«Und, glaubst du diese Geschichten?»
«Ich wäre froh, wenn du mir alles erzählen würdest.»
Der Krug war leer, als Marthe-Marie mit ihrem Bericht geendet hatte. Marusch legte ihr die kräftige Hand auf den Arm. «Herr im Himmel», flüsterte sie. «Was du alles durchgemacht hast. Versprich mir, dass du dich niemals allein vom Lager entfernst. Und wir nennen dich weiterhin Agatha Müllerin.»
«Wem hat Salome wohl noch davon erzählt?»
«Niemandem. Sie kam gleich am ersten Tag zu mir. Nur Diego stand dabei. Er wurde zornig und drohte, falls sie noch einmal davon sprechen würde, ihrem Raben den Hals umzudrehen.»
«Diego also auch.»
«Ja. Aber er mag dich.»
«Am besten, ich verlasse euch in Emmendingen und ziehe allein weiter.»
«Das schlag dir aus dem Kopf. Außerdem – mit dir habe ich, seit ich bei den Spielleuten lebe, endlich so etwas wie eine Freundin. Ich darf gar nicht an unsere Ankunft in Offenburg denken.»
Marthe-Marie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Genau das Gleiche hatte sie heute Mittag auch gedacht: dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit eine Freundin hatte.
Am nächsten Morgen machten sich der Prinzipal und Don Diego, gründlich gewaschen, gekämmt und in ihrem besten Sonntagsgewand, auf den Weg zum Emmendinger Magistrat. Es war jedes Mal ein Glücksspiel, die Lizenz für eine Aufführung zu erbitten, und jedes Mal verwandelte sich der Prinzipal kurz davor in
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