Die Tochter der Hexe
ist schon über siebzig, dabei heller im Kopf als die meisten von den Jungen. Ich hätte gleich an ihn denken sollen. Er kennt jeden hier, weil er Schulmeister war bis ins hohe Alter.»
Sie trat an den kleinen Ecktisch, wo ein hagerer Alter vor einer Pfanne mit gebackenen Eiern saß.
«Verzeiht, Gevatter, wenn ich Euch bei der Mahlzeit störe, ich habe eine Frage an Euch.»
«Nur zu.» Der Greis wies auf die leere Bank zu seiner Rechten und verzog den Mund zu einem zahnlosen Lächeln. «Hast du Hunger, Kleine?»
Agnes schnappte ohne Scheu nach dem Löffel voll Ei, den der Alte ihr vor den Mund hielt. «Und ob du Hunger hast! Das habe ich dir doch an der Nasenspitze angesehen.»
Er zog sie neben sich und fütterte sie bedächtig.
Marthe-Marie protestierte. «Das geht doch nicht. Euer ganzes Mittagsmahl.»
Semmelwein winkte ab. «In meinem Alter braucht man nicht mehr viel, und Kinder müssen wachsen. Wie heißt die Kleine?»
«Agnes.»
«Agnes. Ein schöner Name. Aber nun zu Euch: Was wolltet Ihr mich fragen?»
«Kennt Ihr den Schlossergesellen Benedikt Hofer? Er ist wohl vor etwa dreißig Jahren nach Offenburg gekommen.»
Der Alte schloss die Augen und saß einen langen Augenblick regungslos da. Dann ging ein Leuchten über sein faltiges Gesicht.
«Der Benedikt.» Er schüttelte den Kopf. «Fast hätte ich ihn vergessen – Gott möge mir verzeihen. Es ist eben schon so lange her. Seid Ihr verwandt mit ihm?»
«Nun ja – er ist mein Oheim.» Marthe-Marie klopfte das Herz bis zum Hals.
«Der Benedikt mit seinem blauen Auge und seinem braunen Auge.» Wieder schüttelte er den Kopf. «Er war ein lieber Kerl.»
«War? Ist er – ist er tot?»
«Um Himmels willen, ich wollte Euch nicht erschrecken.» Semmelwein legte ihr die fleckige Hand auf den Arm. «Er ist nicht lange hier geblieben, zwei, drei Jahre vielleicht. Er hatte erfolgreich sein Mutjahr absolviert, doch dann lief vieles anders, als er erhofft hatte. Ihr wisst ja vielleicht, dass ein fremder Geselle erst ein Jahr bei einem zünftigen Meister arbeiten muss, bevor er das Bürgerrecht erkaufen und seine Meisterprüfung machen darf. Das Bürger- und Meistergeld hatte er sich vom Munde abgespart, doch als es dann so weit war, hat irgendwer verhindert, dass er sich in die Zunft einkaufen konnte.» Er seufzte. «Tja, Neider und Ränkeschmiede gibt es überall, auch unter den ehrenwerten Bürgern dieser Stadt.»
Marthe-Marie hatte ihm atemlos zugehört.
«Und wo ist er jetzt?»
«Ich weiß es nicht. Er hat immer von einer Reise ans Schwäbische Meer geträumt. Vielleicht lebt er jetzt am Bodensee – er ist ja um einiges jünger als ich», fügte er hinzu, wie um ihr Hoffnung zu machen.
Fast schmerzhaft spürte sie die Enttäuschung in sich aufsteigen.
«Ihr müsst wissen», der Alte begann krampfhaft zu husten, das viele Reden schien ihn anzustrengen, «Ihr müsst wissen, dass Benedikt recht verschlossen sein konnte. Er war geradlinig, hatte das Herz am rechten Fleck, aber irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Wir saßen oft zusammen. Damals war ich noch Schulmeister und Organist in der Heiligkreuzkirche, wo Benedikt im Chor sang. Ein begnadeter Sänger. Wir hatten uns bald angefreundet und pflegten jeden Sonntag nach der Kirche unseren Schoppen drüben in der Kesselgasse einzunehmen. Was ich schon damals nicht verstandenhabe: Er war ein gut aussehender Bursche, an jedem Finger hätte er zehn Mädchen haben können, doch er wollte von keiner etwas wissen.»
«Hat er Euch gesagt, warum er von Freiburg weg ist?»
«Nein. Aber ich vermute, wegen einer Frau.»
«Und – warum kam er gerade hierher, nach Offenburg?»
«Seine Ahn mütterlicherseits lebte hier. Er hat sie sehr verehrt. Sie hieß übrigens auch Agnes, wie Eure Tochter. Als sie starb, war das wohl Anlass genug für ihn, der Stadt den Rücken zu kehren.»
Agnes war an seiner Schulter eingeschlafen, satt und zufrieden. Marthe-Marie starrte vor sich hin. Ihr Weg nach Offenburg war also umsonst gewesen. Plötzlich hallte in ihren Ohren die unsinnige Frage des Irren wider: Wo hast du deine Wurzeln, wo hast du das Gold versteckt? Sie besaß weder das eine noch das andere. Geboren war sie im elsässischen Ensisheim, gelebt hatte sie in Innsbruck, in Wien, in Konstanz. Ihre Mutter hatte man in Freiburg als Hexe verbrannt, ihr Vater war spurlos verschwunden. Nein, sie hatte keine Wurzeln. Sie war schlechter gestellt als jeder Hintersasse, jeder Lernknecht, der um seinen festen Platz in
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