Die Tochter der Hexe
glaubten, sie hätten mit mir noch eine Rechnung offen. Aber ich habe ihnen so zugesetzt, dass sie sich hoffentlich nie wieder blicken lassen.»
«Weißt du, was ich denke, Diego? Eine Frau wäre verraten und verkauft, wenn sie sich in deine Obhut begäbe. Mit dir würde sie ständig in Gefahr geraten.»
«Warum? Ich lebe doch noch.»
Sie schüttelte den Kopf. «Allein das wenige, was ich von dir weiß, macht mir Sorgen.»
Er strahlte sie an. «Das ist schön! Wenigstens sorgst du dich um mich.»
«Ach, hör auf. Nichts und niemanden nimmst du ernst.»
«Das ist nicht wahr.» Er zog die dunklen Augenbrauen zusammen. «Du etwa, du bedeutest mir mehr, als ich dir zeigen kann. Ich bin nicht der ewige Spaßmacher und Draufgänger. In mir drinnen sieht es ganz anders aus, ich – ich bin zum Beispiel ein ganz feiger Lump, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht. Wie oft schon hätte ich dich am liebsten in den Arm genommen und geküsst – ich meine, nicht im Scherz oder als Komödiant, sondern als Mann, der eine wunderschöne Frau verehrt.»
Als Marthe-Marie schwieg, zog er sie in den Schatten einer Weide. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie unerwartet sanft auf den Mund. Sie ließ es geschehen, und schließlich erwiderte sie seinen Kuss.
17
Der Andrang war so gewaltig, dass die Menschen auf Brunnenränder, Handkarren und Bierfässer stiegen, um besser sehen zu können. Marthe-Marie und Diego hatten ihre Eingangsnummer mit Donnerknall und Feuerzauber beendet, mit dumpfen Trommelschlägen kündigte der Prinzipal die Moritat vom Werwolf Peter Stump an, und noch immer strömten die Menschen auf den Platz vor dem Rathaus von Freudenstadt, wo an diesem Tag auch Händler und Krämer aus der Umgebung ihre Stände aufgeschlagen hatten. Gerade als Diego, eine riesige schwarze Wolfsmaske auf den Schultern, über die Bühne schlich, um sich mit bebenden Pranken sein erstes Opfer zu suchen, erhob sich in den Reihen der Händler lautstarkes Gezänk. Einige vorwitzige Burschen waren auf das Budendach eines Alpirsbacher Glaskrämers geklettert, um besser sehen zu können. Darüber geriet der Krämer so außer sich, dass er sie erst mit Dreck und Steinen bewarf, dann mit einer mannshohen Latte nach ihnen schlug, bis zwei der Burschen schreiend auf das Pflaster stürzten.
Diego unterbrach sein Spiel und ließ sich in die Hocke sinken. Er beobachtete versonnen, wie einige Zuschauer den Glaskrämer am Kragen packten, andere seinen Schragentisch mit der kostbaren Ware anhoben und alles zu Boden kippten. Unter ohrenbetäubendem Klirren zerbarsten die kristallenen Schalen, Gläser und Krüge in tausend Stücke. Es kam zu einer handfesten Prügelei, die sich binnen Sekunden quer durch die Zuschauermenge fortpflanzte.
Endlich bequemte sich ein Trupp Stadtknechte herbei und schlug mit Knüppeln auf Köpfe und Schultern, bis die Raufbolde voneinander abließen. Diego sah den passenden Moment gekommen, sprang mit einem markerschütternden Brüllen in die Höhe, alle Köpfe fuhren in seine Richtung, und das Spiel konnte fortgesetzt werden.
«Was für ein Charivari», flüsterte Marusch, die mit Marthe-Marie neben dem Bühnenwagen stand.
Die schüttelte missbilligend den Kopf. «Wenn das jeden Tag so geht, werden wir noch aus der Stadt gejagt, wegen Anstiftung zum Aufruhr.»
«Im Gegenteil. Du wirst sehen – wenn die Männer morgen beim Rat der Stadt vorsprechen, werden wir gleich für etliche Wochen eine Konzession bekommen.»
Der Freudenstädter Magistrat hatte bei ihrem Gesuch um ein Gastspiel nicht die Katze im Sack kaufen wollen und bekundet, es möge zunächst eine Aufführung stattfinden, damit sich der Rat ein Bild machen könne. Dann erst sei über die weiteren Konditionen zu verhandeln.
Für Leonhard Sonntag bedeutete ein Gastspiel in Friedrichs Freudenstadt die Erfolg versprechendste Unternehmung des ganzen Jahres, und so hatten er und die anderen im Laufe der vergangenen Wochen ein wahrhaft zugkräftiges Programm auf die Beine gestellt: In wechselnder Folge wollten sie die Moritat vom Werwolf, das Drama vom verlorenen Sohn und, auf Diegos Drängen hin, eine schaurig-poetische Bearbeitung des Totentanzes spielen. Für die Sonn- und Feiertage waren Historien aus dem Alten Testament vorgesehen. Quirin hatte einen neuen Auftritt als Messerwerfer erarbeitet, und zur Überraschung aller wagten sich Severin und Valentin, zwei Jahre nach Severins lebensgefährlichem Sturz, wieder aufs Seil.
Weitere Kostenlose Bücher