Die Tochter der Hexe
Schon jetzt, bei ihrer ersten Aufführung, hätte niemand beurteilen können, was die größte Attraktion darstellte – jede Nummer hatte die Begeisterung der Zuschauer nur noch gesteigert.
Eine ganz anrührende Darbietung hatten die Kinder eingeübt: In einer der Umbaupausen erschienen sie mit den beiden Hunden auf der Bühne. Der größere Hund zog einen Karren hinter sich her, in dem mit bemalten Gesichtern Agnes und Lisbeth hockten,der kleinere lief auf den Hinterbeinen hintendrein. Antonia mimte die Prinzipalin, ihr jüngerer Bruder Tilman den Tierbändiger. Mit fester Stimme stellte Antonia die beiden Hunde als Romulus und Remus vor – Romulus sei von Beruf Artist, Remus Professor der Mathematik, denn er könne zählen. Und nun folgte das schier Unglaubliche: Tilman fragte einen Zuschauer, wie weit Remus zählen solle. Bis zwölf? Gut, bis zwölf. Er kniete vor dem großen zottigen Hund nieder und hob wie ein strenger Schulmeister den Zeigefinger. Remus spitzte die Ohren, begann dann zu nicken, zehnmal, elfmal, zwölfmal. Ein Raunen ging durch die Menge. Während Tilman ihm zur Belohnung ein Stück Speck gab, stellte sich Romulus auf die Hinterbeine und jaulte, bis auch er seine Belohnung bekam.
«Und wie viele Räder hat dieser Karren?»
Genau viermal nickte Romulus, das Publikum brach in Beifall aus. Marthe-Marie sah, wie sich Marusch eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.
«Ist das nicht unglaublich? Bis zur letzten Minute haben sie nicht verraten, was sie vorhaben – sie sind wahre Künstler. Ach, Marthe-Marie, ich bin so stolz auf sie.»
Am nächsten Morgen machten sich der Prinzipal und Diego auf den Weg ins Rathaus, und Marusch und Marthe-Marie nutzten die Zeit, Freudenstadt zu erkunden.
Die höchstgelegene Stadt im ganzen Reich erstaunte und begeisterte sie. Dabei war das letzte Stück ihrer Reise wenig viel versprechend gewesen: Sie hatten eine Hochebene erreicht, die bedeckt war mit Moorseen, undurchdringlichem Tannenwald und Moosen. Dass hier Erdmännlein die Silberschätze der Berge hüteten und Waldgeister über die Moore und Forste wachten, dass es nachts spukte und irrlichterte, schien angesichts dieser düsteren Natur überhaupt nicht abwegig. Keiner von ihnen hätte hier, inmitten dieser rauen Wildnis, solch eine prächtige Stadt erwartet.
Allein die blitzblanken Fassaden, die sauberen Gassen und Plätze – wie eine edle Dame in einem neuen vornehmen Gewand präsentierte sich Friedrichs Freudenstadt, die, wie sie von Diego wussten, erst vier Jahre zuvor von dem großen Baumeister Schickhardt errichtet worden war. Natürlich fanden sich noch allerorts Baustellen, vor allem jenseits des Marktes. Aber was für ein Marktplatz das war: Einen größeren gab es wohl nirgends im ganzen Land, und eine Stadt wie Gengenbach oder Wolfach hätte ohne weiteres Platz darauf gefunden. Er war im Quadrat angelegt, die schmucken Häuser mit den Arkaden im Untergeschoss blickten mit ihrer Giebelseite auf den Platz. Fünf Brunnen, aus Waldquellen gespeist, mit Säulen und kunstvollen Statuen, standen den Bürgern zu freiem Nutzen. Das Muster der Straßen hatte der Baumeister gleich einem Mühlespiel angelegt, drei Häuserzeilen hinter jeder Seite des Marktplatzes waren bereits errichtet. Auf einer der Platzecken erhob sich das Rathaus, auf der Ecke gegenüber die Stadtkirche. Die allerdings mutete in ihrem Bau reichlich seltsam an: Wie ein Winkelhaken umschloss sie die Ecke mit zwei Langhäusern, an deren jeweiligem Ende ein Turm aufragte. Beide standen jetzt noch hinter einem Baugerüst verborgen.
«Wahrscheinlich sollen in dem einen Langhaus die Frauen, im anderen die Männer beten, damit Sitte und Anstand gewahrt bleiben.» Marthe-Marie musste über Maruschs wunderliche Erklärung lächeln; Tage später erfuhr sie, dass dem tatsächlich so war.
Am Neptunbrunnen stießen sie auf Diego und den Prinzipal.
«Eine herrliche Stadt, nicht wahr?» Diego hakte sich bei Marusch unter. Marthe-Marie hatte den Eindruck, dass er trotzig auf Abstand zu ihr hielt, seitdem sie ihm mit roten Wangen deutlich gemacht hatte, was der Kuss an jenem Nachmittag für sie bedeutet habe. Als Ausdruck tiefer Freundschaft solle er ihn verstehen, nichts weiter, und dass sich so etwas nicht wiederholen werde. In Wirklichkeit war sie ganz durcheinander. Sie verstand weder, wasda am Ufer des Baches in sie gefahren war, noch warum sie ihr Handeln im Anschluss bereut hatte. Denn sie hatte den zärtlichen Augenblick sehr
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