Die Tochter der Hexe
Weitsicht in dieser Zeit.
«Die Hirschstangen», hatte er Marthe-Marie erklärt, «stellen das ursprüngliche württembergische Grafenwappen dar. Die Rauten stehen für das Herzogtum Teck, die zwei Barben für die Grafschaft Mömpelgard im fernen Frankreich und die Reichssturmfahne für das hohe Privileg, in Reichskriegen an der Spitze streiten zu dürfen.» Er grinste. «Jedes Mal, wenn ich dieses Wappenschild irgendwo sehe, ist mir, als käme ich nach Hause.»
«Ich wusste gar nicht, dass du so gefühlsselig sein kannst.»
«Doch, das weißt du. Du willst es nur nicht wahrhaben.»
Marusch kam heran. «Auf, auf, ihr beiden Täubchen, es geht weiter. Ohne Rast bis Alpirsbach.»
Dass sie nun im protestantischen Württemberg waren, konnte man nicht übersehen. Marthe-Marie fiel auf, dass die zahlreichen Hof- und Feldkreuze, die sie bisher auf ihrer Reise begleitet hatten, verschwunden waren, ebenso die Dachreiter mit ihren Glöckchen, die dreimal am Tag zum Angelus-Gebet riefen. Und statt der Kapellen mit den hübschen Votivbildern, mit den Bitten und Danksagungen der Hirten an Sankt Wendelin, der Bauern an Sankt Antonius, fanden sie nunmehr deren zertrümmerte Reste.
Nachdem sie die Schenkenburg passiert hatten, wurde das Tal noch enger, und es ging spürbar bergan. Sie mussten häufiger eine Rast einlegen, um die Tiere zu schonen. Die prächtigen Höfe rund um Wolfach mit ihren großen Viehherden und üppigen Weiden waren längst den heruntergekommenen Hütten armer Granatschleifer oder Bergbauern gewichen, die noch in den dunkelsten Tälern, an den steilsten Hängen ihr Auskommen suchten. Die Böden waren steinig und karg, und im Frühjahr, so erzählte ein Hirtenbub Marthe-Marie bei einer Rast, musste die abgeschwemmte Erde in Körben wieder den Hang hinaufgeschleppt werden.
Es war bereits später Nachmittag, als vor ihnen der Kirchturm des alten Benediktinerklosters Alpirsbach auftauchte. Glasbläserhütten, Lohmühlen und stattliche Waldbauernhöfe mit riesigen Speichern kündeten vom Reichtum der Abtei.
Zum ersten Mal in diesem Juni war der Tag sommerlich heiß gewesen. Müde und verschwitzt schlugen sie ihr Lager etwas abseits der Fahrstraße auf einer großen Lichtung auf und führten die Tiere zum Tränken an einen Bach. Marthe-Marie setzte sich auf einen Stein und kühlte ihre Füße, während Agnes mit ihren Freunden an einer flachen Stelle planschte, bis sie alle von oben bis unten nass waren.
Valentin und Severin machten den Anfang, als sie sich splitternackt auszogen und ins Wasser sprangen. Nach und nach folgten die anderen Männer ihrem Beispiel. Selbst Mettel, Marusch und Lamberts Frau Anna zogen sich bis auf ein kurzes Leibchen aus. Sie spritzten, kreischten und tobten im Wasser nicht weniger ausgelassen als die Kinder, während die restlichen Frauen am Ufer standen und lachten.
«Man könnte meinen, die sind aus dem Tollhaus ausgebrochen», brummte Sonntag, der sich als Einziger seiner Truppe vornehm abseits hielt.
«Los, mein Löwe, zieh dich aus.» Marusch spritzte ihn nass. «Oder hast du Angst, dein schöner Bauch könnte Schaden nehmen?»
Diego tauchte prustend vor Marthe-Marie auf. Wassertropfen glitzerten wie Perlen auf seinen muskulösen Schultern und Armen. «Was ist mit dir?»
«Ich kann nicht schwimmen.»
«Ich auch nicht. Schau, es ist nicht tief, das Wasser reicht nur bis zur Hüfte.»
Er wandte sich um und durchschritt mit ausgestreckten Armen und auf wackligen Beinen den aufgestauten Bach. Da entdeckte Marthe-Marie zum ersten Mal die tiefe Narbe an seinem Rücken. Sie wirkte noch frisch.
«Und? Was ist?» Er winkte ihr zu, glitt aus und fiel bäuchlings ins Wasser.
«Siehst du», rief sie zurück, «deshalb bleibe ich lieber am sicheren Ufer.» In Wirklichkeit hätte sie um nichts in der Welt vor allen Leuten ihre Kleider abgelegt. Dass die Kinder oder auch Männer sich zum Baden nackt auszogen – gut. Für eine erwachsene Frau jedoch ziemte sich das ihrer Meinung nach nicht, mochten die Fahrenden auch anders darüber denken.
Inzwischen war Diego neben ihr aus dem Wasser geklettert undschüttelte seine Haare aus. Verstohlen betrachtete Marthe-Marie seinen gut gebauten, kräftigen Körper.
«Was ist das für eine Narbe?», fragte sie, als er sich sein Hemd überstreifte.
«Von einem Dolch.»
«Von einem Dolch? Erzählst du mir jetzt wieder eine deiner Räubergeschichten?»
»Nein.» Er verzog das Gesicht. «Das waren keine Räuber; das waren falsche Freunde, die
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