Die Tochter der Hexe
Steinen oder Stofffetzen.
«Hast du das selbst gemacht?»
Er nickte. «Es hätte längst schon fertig sein sollen, aber ich hatte ja so selten Zeit in den letzten Wochen. Gefällt es dir?»
Sie nahm das Steckenpferd in die Hand und strich über den Kopf. «Es ist wunderschön.»
«Mähne und Schopf sind von meiner Fuchsstute. Sie hat ganz schön Haare lassen müssen.»
«Du glaubst nicht, wie sehr Agnes sich freuen wird. Ich werde ihr das Pferdchen gleich bringen. Oder nein, noch besser, du gibst es ihr. Sie spielt unten im Hof mit den anderen.»
Vom offenen Fenster aus beobachtete sie, wie Diego auf dem Steckenpferd in den Hof ritt und die Kinderschar ihm johlend folgte. Dann hielt er an, hob Agnes in die Luft und setzte sie auf den Stecken. Wie ein junges Kälbchen hüpfte sie ungelenk über das Pflaster und strahlte vor Wonne.
Eigentlich, dachte Marthe-Marie, wäre er ein guter Familienvater. Hätte er nur nicht diese Unrast im Blut. Doch war nicht eben diese Unrast auch Teil ihres eigenen Wesens? Sie spürte zum ersten Mal so etwas wie Seelenverwandtschaft mit diesem Mann und zugleich ein Gefühl tiefer Wärme ihm gegenüber.
18
Bereits die dritte Woche gastierten sie in Freudenstadt, und noch immer strömten jeden Tag aufs Neue Massen von Schaulustigen zu ihren Aufführungen. Wer nicht mit barer Münze zahlen konnte, gab einen Schock Eier oder ein Stück Dörrfleisch, und viele sahen ihre Darbietungen bereits zum dritten oder vierten Mal. Inzwischen hatten Marthe-Marie und Marusch herausgefunden, wie der erstaunliche Trick mit dem zählenden Hund vor sich ging, der jeden Nachmittag bei den Zuschauern für ungläubige Zwischenrufe sorgte. Alle Welt beobachtete nämlich das Kopfnicken des Tieres und zählte aufmerksam mit – und keiner bemerkte daher, dass Remus genau in dem Augenblick aufhörte zu nicken, in dem Tilman seine Hand mit dem gestreckten Zeigefinger zu Boden senkte. DieKinder hatten dem Hund demnach nichts anderes beigebracht, als so lange zu nicken, wie die Hand in der Luft war. Nur dann erhielt er sein Stück Speck als Belohnung.
«Nur gut, dass der Trick so simpel ist», meinte Marusch. «Nicht dass unsere Kinder noch eines Tages wegen Zauberei im Turm landen, wie damals Diego.»
Doch in Freudenstadt hatten sie derlei nicht zu fürchten. Als ob allein der Name der Stadt Gewähr genug sei für eine heitere und freundliche Stimmung der Menschen, waren die Spielleute hier noch kein einziges Mal geschmäht oder gar angefeindet worden. Im Gegenteil, man begegnete ihnen neugierig und ohne Argwohn. Es schien, dass hier jeder, noch der geringste Tagelöhner und Knecht, stolz darauf war, zum Aufbau der Siedlung beizutragen, und dass man das Spektakel der Fahrenden als willkommene Belohnung für das vollbrachte Tagwerk ansah.
Bereits in den ersten Tagen hatten Diego und Sonntag den Wirt gebeten, ihre abendliche Mahlzeit im Hof einnehmen zu dürfen. Dreher hatte seine Erlaubnis nur zögernd gegeben und unter der Auflage, kein offenes Feuer zu machen und Schlag neun den Hof zu räumen. Doch bald merkte er, wie sein Umsatz an Wein, Bier und Branntwein sich auf wundersame Weise vervielfachte, denn mit Sonntags Musikanten, die fast jeden Abend zum Tanz aufspielten, wurde der Hof seines Gasthauses zur Attraktion der Stadt.
«Hier lässt es sich leben», lachte der Prinzipal, als ihm Mettel an diesem Abend den ersten Krug Bier herausbrachte. Sie hatte, da sie sich nunmehr weder um die Mahlzeiten noch um die Feuerstellen kümmern musste, dem Wirt angeboten, in der Küche und beim Ausschank auszuhelfen, und man mutmaßte schon, David Dreher habe aus gleich mehreren Gründen ein begehrliches Auge auf sie geworfen.
«Trinken wir auf Friedrichs Freudenstadt und darauf, dass der Magistrat die Verlängerung unserer Konzession bewilligt.»
Alle hoben ihren Becher und prosteten dem Prinzipal zu. Nur Diego schien an diesem Abend merkwürdig abwesend.
«Was ist?», fragte Marthe-Marie. «Freust du dich nicht über unsere Glückssträhne?»
Er lächelte, doch seine grünen Augen blickten ernst. «Fragt sich, ob die für mich lange anhält», murmelte er.
«Wie meinst du das?» Marthe-Marie sah ihn verwundert an.
«Ach nichts, vergiss, was ich eben gesagt habe. Tanzen wir?»
»Gern!«
Diego wusste den Dreher in allen erdenklichen Varianten zu tanzen: Erst umfasste er mit der rechten Hand locker ihren Rücken, seine Linke hielt er nach oben, sie legte ihre rechte Hand ganz leicht hinein, und so schwebten
Weitere Kostenlose Bücher