Die Tochter der Hexe
Leonhard Sonntag und Diego, die vorausfuhren, schrammten mehr als einmal an Felsen und Ästen entlang. Dann ging überhaupt nichts mehr: Quer über dem Weg lag eine umgestürzte Tanne.
Sonntag sprang vom Kutschbock und rief die Männer zusammen.
«Schaffen wir das?»
Diego setzte sich mit verschränkten Armen auf den Baumstamm. «Wozu haben wir Maximus, den stärksten Mann der Welt?»
Maximus verzog keine Miene, und die anderen lachten.
«Keine Späße jetzt.» Der Prinzipal war verstimmt über die neuerliche Unterbrechung ihrer Reise. «Alle Mann nebeneinander an den Baumstamm, und los.»
Neugierig kamen die Frauen und Kinder heran. «Sollen wir euch anfeuern?», fragte Marusch.
Plötzlich rief Caspar, der am unteren Ende der Tanne stand: «Das war nicht der Sturm. Der Baum ist gefällt.»
«Verdammt, ein Hinterhalt!» Sonntag sah zu den Frauen und Kindern. «Alle in den Wohnwagen, schnell.»
Doch es war zu spät. Fünf maskierte Männer sprangen von den Felsen, einer von ihnen packte Antonia und richtete den Lauf seines Vorderladers auf ihre Schläfe.
«Das Mädchen ist tot, wenn ihr nicht macht, was ich sage.»
Marusch unterdrückte einen Schrei. Dann hob sie langsam die Hand. «Das ist meine Tochter. Nehmt mich und lasst sie los.»
«Halt’s Maul. Alle Männer rüber zum ersten Wagen. Wer sich wehrt, wird erschossen.»
Tapfer, und ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Antonia der tödlichen Bedrohung an ihrer Seite stand. In wenigen Minuten waren die Männer gefesselt und jeweils zu viert an die Wagenräder gebunden. Marthe-Marie sah geradewegs in Diegos Gesicht. Wut und Hass stand in seinen Augen, doch kein Funken Angst. «Es wird alles gut», flüsterte er ihr zu. Da schlug einer der Maskierten ihm die Faust ins Gesicht.
«Jetzt die Frauen und Kinder», rief der Bewaffnete, der offenbar der Anführer war. Ein untersetzter, kräftiger Kerl riss die Tür zum Wohnwagen auf und stieß sie einzeln hinein. Als Isabell und Antonia an der Reihe waren, hielt er beide fest.
«Die zwei nehmen wir uns als Belohnung.» Er grapschte nach Isabells Busen.
«Dann bringe ich dich um, sobald ich freikomme, » schrie Sonntag.Einer seiner Bewacher lachte und versetzte ihm einen kräftigen Schlag mit seinem Knüppel.
«Lass das, du Arschloch, » fuhr der Anführer dazwischen. «Das ist der Prinzipal. Und wer noch einmal eine Frau anrührt, dem blase ich das Hirn aus dem Schädel. Wir haben keine Zeit zum Rumvögeln.»
Mettel war die Letzte, die unsanft in den Wagen gestoßen wurde. Dann verriegelten sie Fensterläden und Tür.
In der Dunkelheit des Wagens zog Marthe-Marie Agnes in ihre Arme, doch die schien, wie Lisbeth auch, das Ganze als ein Spiel anzusehen und plapperte munter vor sich hin. Die anderen Kinder waren vor Schreck verstummt, nur Niklas, der zehnjährige Sohn von Lambert und Anna, begann leise zu schluchzen. Antonia sprach tröstend auf ihn ein.
Sie hörten von draußen die Stimmen der Wegelagerer, lautes Pferdewiehern, dann Hufgetrappel und erschrecktes Hundegebell.
«Romulus und Remus!» Tilman schrie auf. «Sie werden sie umbringen.»
Marusch tastete nach seiner Hand. «Bleib ruhig. Deine Hunde sind klug, die werden das Richtige tun. Ihr müsst jetzt alle ganz ruhig bleiben, dann wird uns schon nichts geschehen.»
Marthe-Marie versuchte, gegen das Zittern ihres Körpers anzukommen. Sie hatte grauenhafte Angst um die Männer draußen. Vor allem um Diego, der so aufbrausend sein konnte. In dieser Situation würde das seinen Tod bedeuten.
Jetzt ruckte es heftig an ihrem Wagen. Offenbar wurde das Maultier ausgespannt.
«Sie haben es auf die Pferde abgesehen», flüsterte Mettel.
Doch das war es nicht allein. «Wo ist der Zaster?», hörten sie den Anführer brüllen. «Mach jetzt dein Maul auf, oder wir stecken den Wagen mit den Frauen und Kindern in Brand.»
«Es ist die schwarze Kiste im vordersten Wagen.» Sonntags Stimme klang müde.
«Jetzt sind wir arm wie die Kirchenmäuse», entfuhr es Marusch.
«Los, führt die Pferde zusammen und durchsucht noch die anderen Wagen. Aber beeilt euch.»
Dann wurde es zunehmend lauter. Holz splitterte, Geschirr ging zu Bruch, dazwischen das Hohngelächter der Räuber und immer wieder leises Wimmern.
«Sollen wir denen da drinnen ein wenig Feuer unterm Arsch machen?» Das war die Stimme des Untersetzten. «Ich meine, wenn wir mit den Weibern schon keinen Spaß haben dürfen.»
Da brüllte Maximus auf wie ein Tier. Ein lautes Knacken war zu hören,
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