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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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und in die Mitte des Raums zurückweichen.
    Als Mary Lacey an uns vorbeigeschlichen kam, um den Toiletteneimer zu benutzen, verwandelte sich mein Ohnmachtsgefühl in rasende Wut. Jahrelang waren wir in Andover Nachbarinnen gewesen, und nun hatte sie falsch gegen meine Mutter ausgesagt, um ihre eigene Haut zu retten. Mary warf mir einen Blick zu, und wieder hatte ich deutlich ihr hämisches Gesicht vor Augen, das mich über den Rand des Grabsteins hinweg angeglotzt hatte, während Mercy Williams mich im Schwitzkasten hielt und mir drohte, mich in meinem eigenen Bett bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Und so stürzte ich mich auf sie und versetzte ihr einen so heftigen Stoß, dass sie hinfiel. Einige Frauen murrten, weil Mary sich auf sie stützte, um sich wieder hochzurappeln. Allerdings wies mich niemand zurecht oder kam Mary zur Hilfe. In mehr als einem Augenpaar erkannte ich sogar ein schadenfrohes Funkeln. Mary sah mir nicht in die Augen, sondern raffte nur ihre Röcke und trollte sich auf die andere Seite der Zelle. Ich spürte Toms Hand auf der Schulter, machte mich jedoch los, denn ich war einem Tränenausbruch so nah, dass ich Trost nicht hätte ertragen können. Obwohl ich die Luft anhielt, damit mein Herz langsamer schlug, brachte sein heftiges Klopfen meinen ganzen Körper zum Vibrieren. Mein Schädel pochte, und meine Augen zitterten im Gleichtakt mit den tanzenden Schwebeteilchen in der Luft in ihren Höhlen. Als ich den Blick über die Frauen schweifen ließ, die in der Zelle herumsaßen oder mit schlaffem Kiefer und hängenden Armen dastanden, wurde ich von Zorn ergriffen. Warum erhoben sie sich nicht und lehnten sich auf? Weshalb versuchten sie nicht zu fliehen oder stellten zumindest Forderungen an die, die uns gefangen hielten? Wo waren die Empörung, der Aufstand, die Wut?
    Gegen Mittag erschien Vater und brachte uns etwas zu essen. Seine Versprechen, er werde bis zu Mutters letztem Tag auf Erden täglich kommen, klangen für mich wie unverständliche Wortfetzen. Außerdem hatte ich in meiner Angst vergessen, ihm die Botschaft von Dr. Ames auszurichten, die mir erst viele Tage später wieder einfiel. Stattdessen griff ich nach Vaters Hand, flüsterte ihm ins Ohr und flehte ihn wieder an, Mutter zu retten und sie und uns von hier fortzubringen. Ich gelobte, von heute an Tag und Nacht zu arbeiten, nichts mehr zu essen und nackt in der Wildnis zu leben, wenn er nur endlich etwas unternahm. Als sein Blick schließlich meinen traf, meinte ich das Geräusch eines zuklappenden Buches zu hören. Es war ein Buch, das die klingenden Worte eines ganzen Lebens enthielt. Der Buchdeckel wird aufgeschlagen und gibt die Seiten frei. Und dann, und dann, und dann … raunen sie, bis sie, kurz nach der Mitte des Buches, umklappen und, immer schneller und schneller, dem hinteren Buchdeckel entgegenrauschen. Zu guter Letzt ertönt nur noch ein gewichtiger Knall, gefolgt von einem letzten, unausgesprochenen Nein .
    Nachdem Vater fort war, stand ich, reglos, starr und unbeweglich wie der Zeiger einer Sonnenuhr, mitten in der Zelle, außerstande, mich wieder in das Treiben der Lebenden einzureihen. Die Nachmittagssonne schien durch die Fensterschlitze und erhellte für einen Moment die Zelle. Entsetzt betrachtete ich, wie mein Schatten sich veränderte, als das Licht erst heller wurde und dann abnahm, bis schließlich die Nacht hereinbrach. Als der Mond der Sonne gefolgt und am westlichen Horizont untergegangen war, stand ich immer noch so da.

    Der Mittwoch verging ebenso wie der Dienstag. Die Toiletteneimer wurden fortgeschafft, und Vater kam und brachte uns ein paar Brocken, um ein Eckchen in unseren Mägen zu füllen. Außerdem teilte er uns mit, dass Andrew auf dem Weg der Besserung sei und sich gut erhole. Allerdings ließen sich weder Reverend Dane noch Dr. Ames blicken. Auch die Frau des Sheriffs erschien nicht, und die anderen Gefangenen erhielten kaum Besuch. An diesem Tag wurde kein weiterer Unglücklicher verurteilt und in Ketten ins Gefängnis geschleppt. Im Versammlungshaus von Salem herrschte Stille. Es war, als ob die Zeit in unseren Zellen im Vergleich mit den Stunden und Minuten außerhalb der feuchtkalten Gefängnismauern verkürzt worden wäre. Und wie ein kleiner Kolben in einem größeren überholten wir die Außenwelt und stürzten einem endlosen Schlaf entgegen. So sehr ich auch versuchte, das Verstreichen des Tages aufzuhalten, indem ich die Augen schloss, mich langsamer bewegte oder auf Schlaf

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