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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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schleppte sie sich den Flur entlang auf uns zu. Als sie mir in die Augen blickte, brauchte sie nichts zu sagen, denn ich wusste, was sie für mich und für meine Brüder empfand. Ihr ausgemergelter Körper legte Zeugnis von dieser Liebe ab, denn sie hatte, möglicherweise schon seit Wochen, die Nahrung verweigert, damit wir vielleicht ein kleines Scheibchen Brot mehr bekamen. Ihr Kleid hatte sie gegen ein winziges Stück Fleisch eingetauscht und auch auf Wasser verzichtet, damit ihre Kinder ihren Durst stillen und überleben konnten. Dennoch gab man ihr keine Gelegenheit, kurz innezuhalten und uns zu berühren oder zu umarmen, sodass ihr nur blieb, uns in stolzem Schweigen anzusehen. Am vergangenen Abend hatten wir mit ihr ausführlich über unsere Gefühle gesprochen, sodass es nichts mehr zu sagen gab. »Die Erinnerung kennt keinen Tod«, hatten ihre letzten erschöpft hervorgestoßenen Worte an mich gelautet, bevor sich die Gefangenen in den Zellen zur Ruhe legten. »Vergiss mich nicht, Sarah. Denke an mich, dann wird ein Teil von mir immer bei dir sein.«
    Als sie nun an mir vorbeiging, tippte sie sich mit dem Finger an die Brust und zeigte dann damit auf mich, um das unsichtbare Band zwischen uns herzustellen - den Faden der Hoffnung, des Fortbestehens und des Verständnisses. Auch ganz zum Schluss ließ sie es sich nicht nehmen, die Treppe ohne fremde Hilfe und sicheren Schrittes hinaufzusteigen und nicht etwa zu stolpern oder auf Händen und Knien zu kriechen. Dann fiel die Tür mit quietschenden Angeln hinter ihr ins Schloss.
    Ich stellte mir vor, wie sie, ins grelle Tageslicht blinzelnd und geblendet, zu den vier Männern in den Karren verfrachtet wurde. Unbeholfen wegen der vor der Brust gefesselten Hände, hatte sie sicher Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren, als der Karren von der Prison Lane scharf in die Main Street einbog. Der Wagen ratterte an den Häusern der Richter und einiger Geschworener vorbei, und gewiss säumten nicht wenige Schaulustige die Straßen, um ihm nachzublicken, als er auf den Galgenhügel zusteuerte. Dazu musste der Karren die Town Bridge überqueren, die einen Seitenarm des North River mit seinem nach Schwefel stinkenden Auffangbecken kreuzte. Danach teilte sich die Straße in die Boxford Road und die südliche Old Road, wo der Wagen sich den holperigen Weg zum Fuß des Galgenhügels hinaufquälte. Dort hatten sich Dutzende von Männern, Frauen und Kindern aus Salem Dorf, Salem Stadt und weiteren Ortschaften eingefunden, um sich an dem Spektakel zu weiden, auch wenn Hinrichtungen eigentlich den Zweck verfolgten, die Seelen der Gläubigen auf den richtigen Weg zu führen und ihnen eine Lektion zu erteilen. In der Menschenmenge befanden sich auch Geistliche, unter ihnen Reverend Cotton Mather, der Großmeister seiner Zunft.
    Heute stehen an dieser Stelle nur noch einige Scheinakazien. Damals jedoch wuchs dort eine gewaltige Eiche mit dicken Ästen, die das Gewicht von zwanzig Personen hätten tragen können, weshalb einige abgemagerte Elendsgestalten keine große Belastung bedeuteten. Nachdem man eine Leiter an den Baumstamm gelehnt hatte, legte der Sheriff, obwohl er allgemein bekannt war, die Kapuze seines Amtes an, da es die alte englische Sitte nun einmal verlangte, dass der Henker sein Gesicht bedeckte. Um seine Kräfte zu schonen, nahm er die schwersten Männer zuerst an die Reihe, führte John Proctor und anschließend George Burroughs auf die Leiter und streifte ihnen die Schlinge über den Kopf. Nachdem er sie in die leere Luft hinausgestoßen hatte, befasste er sich mit John Willard und George Jacobs.
    Meine Mutter wurde als Letzte hingerichtet. Der Henker warf ihren mageren Körper, bereits erschlafft in Erwartung der so lange ersehnten Erlösung, über die Schulter und trug ihn auf die Leiter. Dort legte er ihr den groben Strick um den Hals, und dann kam der Stoß, hinaus in die warme Sommerluft. Der Himmel war leuchtend blau, als habe Gott diese Vorgänge ungehindert und mit weit geöffneten Augen beobachten wollen, ohne dass Wolken die alles enttarnenden Strahlen der Sonne verdeckten. Kein Regen fiel, Tränen gleich, vom Himmel, und kein Wind störte die Schaulustigen, die sich in wohligem Schaudern im Halbkreis immer enger um den Baum scharten. Abgetragene und rissige Schuhe, blankgescheuert vom jahrelangen Wandern über diese Erde, wurden nun weggeschleudert von zuckenden Füßen. Hälse dehnten sich, bis sie schließlich brachen. Das Tor zum Leben schloss sich und

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