Die Tochter der Ketzerin
Cousine, konnte sie jedoch im Dämmerlicht nicht erkennen. Zweifellos glaubten sie noch immer das, was auch ich so lange gedacht hatte, nämlich, dass mein Vater fähig war, seinen Schwager zu vergiften, um seine eigene Familie zu retten.
»Einer der Ärzte, die die Leichenschau an deinem Onkel durchgeführt haben, ist ein guter Bekannter von mir«, fuhr Dr. Ames fort. »Er hat Anzeichen einer Vergiftung entdeckt und mir davon berichtet. Meiner Ansicht nach hat dein Onkel nach dem Besuch deines Vaters den einzig möglichen Weg gewählt, um seine Lippen endgültig zu versiegeln und seine geliebten Angehörigen zu schützen.«
Die Zellentür öffnete sich, und der Sheriff fuhr mit seinem Schlüsselbund laut klappernd über die Gitterstäbe. Der junge Arzt packte seine Sachen zusammen. »Ich bin Dr. Ames«, sagte er. »Obwohl ich inzwischen in Haverhill wohne, stammt meine Familie aus Boston. Ich möchte, dass du deinem Vater etwas ausrichtest. Aber du musst es wortwörtlich wiedergeben. Kannst du das?«
Als ich nickte, fuhr er fort: »Sage ihm, dass ich und einige andere Freunde deines Vaters sind und dass wir, die Leveller, unser Bestes tun werden, um ihm zu helfen. Hast du verstanden, Sarah? Unser Bestes.«
Ich wiederholte die Botschaft mit derselben Betonung, wie er es getan hatte. »Ich werde so oft wie möglich nach euch sehen«, meinte der Doktor zum Abschied. »Vergiss nicht, dass nicht die ganze Welt ist wie dieser Kerker und dass es viele gibt, die so etwas« - er wies auf die Zelle - »als Schande für die Menschheit betrachten.« Nachdem er uns noch ein aufmunterndes Lächeln geschenkt hatte, ging er, um die Gefangenen auf der anderen Seite des Flurs zu versorgen. Wegen seines Hilfsangebots hatte ich wieder mehr Hoffnung für mich und meine Brüder. Allerdings hatte er eine mögliche Rettung meiner Mutter nicht erwähnt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschien der Sheriff erneut, um Andrew zu holen. Erst nachdem Tom und ich durchgesetzt hatten, ihn über den Flur begleiten zu dürfen, und als Richard nach ihm rief, hörte er auf, zu weinen und zu betteln, er wolle lieber bei uns bleiben.
Als Tom und ich uns in jener Nacht schlafen legten, galten meine letzten Gedanken dem Onkel. Ich erinnerte mich an seine schlagfertige und lebenslustige Art, an sein fröhliches Lachen und daran, wie sich der Rauch seiner Pfeife, einem flüchtigen Wunsch gleich, über seine glänzende Stirn zur Decke gekräuselt hatte. Welche Freude hatte es ihm bereitet, Margaret und mich als seine Zwillinge zu bezeichnen. Die Nächte, in denen er beschwipst und erst sehr spät aus dem Wirtshaus zu seiner Familie zurückgekehrt war, oder die Tränen, die die Tante vergossen hatte, während sie auf seine Rückkehr wartete, hatte ich hingegen fast vergessen. Viel deutlicher waren mir seine Geschichten im Schein des Kaminfeuers im Gedächtnis geblieben - die Legenden von blutrünstigen Idianern, von den umherirrenden Geistern der Toten und von heidnischen Königen. Ich sah vor mir, wie er stolz auf Bucephalus saß, einem Pferd, das nach dem Streitross Alexanders benannt war. Die Soldaten hatten diesen König geliebt, bis er sie in unerschlossene Gebiete und Länder geführt hatte, wo Geister und merkwürdige Gestalten umgingen. Und so hatten sie ihrem König einen vergifteten Becher gereicht, damit sie in die Welt zurückkehren konnten, die sie kannten. Der Onkel hingegen hatte das Gift eigenhändig genommen, in der Hoffnung, damit die Menschen, die er liebte, aus dem Reich der Ungeheuer zurückzuholen. Und deshalb weinte ich lange und bitterlich um ihn.
Am Dienstagmorgen wachte ich jäh und in großer Angst auf. Die Frau mit dem faulen Zahn hatte die ganze Nacht schrille Schreie ausgestoßen, sodass ich von Adlern geträumt hatte, die kopfüber vom Himmel fielen. Es war der 16. August. Den Großteil des Vormittags verbrachte ich an den Gitterstäben, wo ich mit Richard und Mutter über die Welt außerhalb unserer Zellen sprach. Wir erwähnten nur die Vergangenheit, wie zum Beispiel Mutters Garten, die reiche Ernte des Vorjahres oder den riesigen Truthahn, den Richard im letzten Frühling geschossen hatte. Mutters Stimme war so schwach, dass ich sie einige Male bitten musste, ihre Worte zu wiederholen, weil ich sie nicht verstanden hatte. Die Frauen an der niedrigen Mauer hatten zwar anfangs Mitleid mit mir und Tom und wanderten in der Zelle umher, damit wir mehr Zeit zum Reden hatten, doch bald mussten wir ihnen wieder Platz machen
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