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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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er mich am anderen Ufer bemerkt. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch bevor ich etwas verstehen konnte, wachte ich davon auf, dass mich jemand an der Schulter rüttelte. Toms Gesicht war tränennass. Ich war über Andrews Brust gesunken, und als mir klar wurde, dass ich ihn für immer verloren hatte, brach ich ebenfalls in Tränen aus.
    Ich schlang die Arme um Tom, doch der machte sich los. »Schau nur, Sarah«, sagte er, aber ich wollte Andrews im Tode verzerrtes Gesicht nicht ansehen. Wieder rüttelte Tom mich an der Schulter und rief meinen Namen. In der Erwartung seiner traurigen Miene hob ich den Kopf - und stellte erstaunt fest, dass seine Augen freudig funkelten. Seine Mundwinkel waren nach oben gebogen, und er lachte ungläubig auf. »Schau dir seinen Arm an«, rief er und schob Andrews Hemdsärmel hoch.
    Ich folgte der Aufforderung und stellte fest, dass der rote Strich auf Andrews Arm über Schulter und Ellenbogen den Rückzug zum Handgelenk angetreten hatte. Mein Bruder atmete ruhig und gleichmäßig, und als ich ihm die Stirn fühlte, war sie kühl und nur von einer dünnen Schweißschicht bedeckt. Endlich schlug er die Augen auf, aber sein Verstand war wieder der eines Kindes geworden. Er lächelte albern und verlangte nichts weiter als einen Teller Suppe und ein Stück Brot.
    Später am Vormittag kam der Sheriff in die Zelle marschiert, um Andrew in Augenschein zu nehmen. »Wenn das keine Hexerei ist!«, rief er aus, nachdem er mich eine Weile entgeistert angestarrt hatte. Auf dem Weg zur Tür teilte er uns mit, Andrew dürfe noch einen Tag bleiben und müsse dann zurück in die Männerzelle. Sobald seine Schritte auf der Treppe verklungen waren, eilte ich zu den Gitterstäben. »Andrew lebt! Er lebt!«, rief ich Richard und Mutter über den Flur hinweg zu. Zum ersten Mal seit vielen Tagen lösten ihre antwortenden Stimmen in mir ein solches Glücksgefühl aus, dass das bedrückende Gefängnis von Salem beinahe vergessen war. Einige wenige Minuten musste ich nicht daran denken, dass meiner Mutter nur noch sechs Tage blieben, um zu träumen, zu wachen oder überhaupt etwas zu empfinden.
    Da es ein Sonntag war, fand in der Frauenzelle eine Morgenandacht statt. Wir baten Goodwife Faulkner, das Dankesgebet zu leiten. Als Vater gegen Mittag erschien, brachte er uns Essen, frisch gewaschene Kleidung und sauberes Wasser. Nachdem Tom ihm berichtet hatte, der Arzt habe Andrew den Arm abnehmen wollen, umfasste Vater so fest die Gitterstäbe, dass ich schon dachte, er würde sie aus der Verankerung reißen. Ich stützte Andrews Kopf auf meinen Schoß, damit er sprechen konnte. »Vater, jetzt kann ich mit dir auf die Jagd gehen«, lauteten seine ersten Worte, und Vater erwiderte: »Mein Sohn, du wirst der Erste deiner Brüder sein, der die Flinte abfeuert.« Bevor die Zeit um war, teilte er uns noch mit, er werde am Dienstag und von da bis Freitag jeden Tag wiederkommen. Bis in die Nacht hinein hielten meine Brüder und ich uns an den Händen und flochten die Finger so fest ineinander wie die Glieder unserer Ketten. »Wie haben Sie diesen schrecklichen Verlust bloß verkraftet?«, ist eine Frage, die wir Überlebenden dieser grauenhaften Prozesse häufig zu hören bekommen. Es ist, als erwarte man von den Opfern, dass sie sich einfach die Nase zuhalten, bis ihnen die Luft ausgeht. Ja, es mag richtig sein, dass einige Menschen den Lebensmut verlieren und nach dem Tod eines geliebten Angehörigen, wegen unerträglicher Schmerzen oder nach einer entstellenden Verletzung Essen und Trinken verweigern. Ein Kind, das erst vor kurzem aus dem Nichts der Schöpfung auf die Welt gekommen ist, kann hingegen widerstandsfähiger als der kräftigste Mann und willensstärker als die beherzteste Frau sein. Ein Kind trägt wie die Zwiebel einer Frühlingsblume unter der Haut alles in sich, was es braucht, um der Sonne entgegenzuwachsen. Nur ein paar Tropfen Wasser sind nötig, damit so eine Zwiebel sogar in einer Felsspalte keimt. Und genauso reicht oft ein wenig Güte, dass es einem Kind gelingt, sich aus der Dunkelheit zu befreien.
    Diese Güte wurde uns in Form von Dr. Ames zuteil. Als er an jenem Montag, dem 15. August, in unsere Zelle trat, erkannte ich ihn zunächst nicht. Beim Hereinkommen presste er sich ein Taschentuch auf die Nase, und er hatte eine maßgefertigte Tasche aus Kalbsleder bei sich. Anfangs hielt ich ihn wegen seines langen, dunklen Mantels und des strengen breitkrempigen Huts für einen Geistlichen.

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