Die Tochter der Ketzerin
verzichtete, er ging dennoch langsam in den Abend über, und ehe ich mich versah, war es Donnerstag.
An Toms Rücken geschmiegt, wachte ich auf. Ich blieb noch eine Weile liegen und genoss, die Hände vor die Brust gedrückt, seine Wärme. Um mich herum hörte ich, wie die anderen aufstanden, und schloss die Augen, weil ich weiterschlafen wollte. Doch mein Verstand ließ sich, einmal geweckt, nicht mehr betäuben. Neben mir sprach eine Zellengenossin das Vaterunser, und ich lauschte den vertrauten Worten, bis sie fertig war. Dabei fragte ich mich, ob die Frau, die das Gebet, ohne zu stocken, aufsagen konnte, wohl versucht hatte, dies als Beweis ihrer Unschuld zu nutzen. Schließlich verhinderte der Teufel nach allgemeiner Auffassung, dass diejenigen, die seinen Stempel trugen, die Worte fließend herausbrachten. Allerdings galt auch dieser Beweis inzwischen offenbar nichts mehr, denn als George Burroughs, früher Reverend in Salem, schon die Schlinge um den Hals und unter dem Galgenbaum stehend, das Gebet forsch und fehlerfrei sprach, lautete Cotton Mathers Antwort nur, der Teufel erscheine eben häufig in Gestalt eines Engels des Lichts. George Burroughs sollte am morgigen Tag mit meiner Mutter hingerichtet werden.
Ich versuchte, ebenfalls zu beten und mir einzureden, meine Mutter erwarte das, was, wie wir im Versammlungshaus gehört hatten, allen Heiligen nach dem Tode bevorstehe. Der Haken daran war nur, dass meine Mutter von der Kirche wegen Hexerei exkommuniziert worden war, sodass keine Hoffnung auf Erlösung bestand, wenn sie sich nicht vor ihrem Tod zu ihrer Schuld bekannte. Nach den Regeln der Kirche würde sie also nicht in den Himmel kommen, sondern im Höllenfeuer der Verdammnis brennen. Aber sie war doch ebenso wenig eine Hexe wie ich! Welche Zwischenlösung würde es also neben den luftigen Höhen des Himmels und den Qualen der Hölle für sie geben? Hinter meinen geschlossenen Lidern erkannte ich nur Schwarz und fahle, verschwommene Formen, die ungeordnet über ein schmales Feld schwebten. Würde der Tod für Mutter so aussehen? Würde es sein, als schliefe man ein und könne Zeit und Ort nur noch als Traumfetzen wahrnehmen? Diese Gedanken an ein Dasein im düsteren Nebel, das sich über Tage, Jahre und Jahrhunderte erstreckte, sorgten dafür, dass ich schlagartig die Augen aufriss.
Der Klang von gleichmütig die Treppe hinunterschlurfenden Schritten störte die morgendliche Ruhe. »Es ist die Frau des Sheriffs. Sie kommt einen Tag zu früh«, flüsterte eine Frau, die ihren Platz an der niedrigen Mauer hatte und in den Flur hinausspähte, uns anderen zu. Wir hörten, wie zwei Paar Füße zur Zelle der zum Tode Verurteilten gingen. Im nächsten Moment drehte sich meine Mitgefangene um: »Jetzt ist sie in der Zelle.«
Rasch stand ich auf, suchte mir einen Platz an den Gitterstäben und wartete, dass sie wieder herauskam. Der Sheriff stand mit seiner Laterne auf dem Flur und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, bis Goodwife Corwin erschien. Sie trug etwas im Arm und machte sich auf den Rückweg, den Flur entlang. Als sie mein Gesicht an den Gitterstäben bemerkte, blieb sie stehen.
»Heute gibt es für dich etwas mehr zu essen«, sagte sie. Ich blickte an ihr herunter und sah, dass sie das inzwischen von Gefängnisdreck verschmutzte Kleid in der Hand hatte, in dem meine Mutter verhaftet worden war. Bestürzt blickte ich ihr nach, während sie mit ihrem Mann die Treppe hinaufstieg. Kurz vor zwölf Uhr reichte der Sheriff erst Richard und dann mir einen kleinen Laib Brot und ein Stück gepökeltes Schweinefleisch durch die Gitterstäbe. Mehr war das Kleid meiner Mutter offenbar nicht wert gewesen. Ich hielt den halben Brotlaib in den Händen und wiegte mich vor und zurück, bis meine Tränen ihn so aufgeweicht hatten, dass ich ihn essen konnte.
Da die zum Tode Verurteilten in aller Früh gehängt wurden, musste der Sheriff noch vor Morgengrauen mit seiner Laterne in den Kerker herunterkommen, um die Hinrichtungsbefehle zu verlesen und die Namen derer aufzurufen, die sterben sollten. Und so hallten am Freitag, dem 19. August, den schlaflos in ihren Zellen Verharrenden fünf Namen entgegen: John Proctor, John Willard, George Jacobs, Reverend Burroughs und Martha Carrier. Um sieben Uhr würde man sie aus dem Gefängnis holen und mit einem Karren zum Galgenhügel bringen.
Am Vorabend hatten einige schwarzberockte Geistliche aus Salem und Umgebung die Zellen aufgesucht, um die Gefangenen zu
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