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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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Doch als er das Tuch vom Gesicht nahm und einsteckte, stellte ich fest, dass er ein junger Mann von höchstens dreißig Jahren war. Er hatte eine schmale, gerade Nase, dunkle Augen und zusammengewachsene schwarze Augenbrauen. Einige Frauen begrüßten ihn, streckten die Hände nach ihm aus, scharten sich um ihn und flehten ihn um Hilfe an. Er beruhigte sie mit wenigen Worten und ging dann von Frau zu Frau, um hier eine Wunde zu behandeln, da eine Salbe zu verabreichen oder einfach nur eine Hand zu halten und ein paar Worte zu sprechen. Er widmete sich jeder, als sei er allein mit ihr, und mehr als eine umfasste sein Gesicht und segnete ihn für seinen freundlichen Beistand. Als er schließlich bei uns angelangt war, kniete er sich hin und meinte freundlich zu Andrew: »Tja, wie ich sehe, ist da offenbar ein Wunder geschehen.« Er lächelte Andrew an, woraufhin dieser den Arm ausstreckte, damit der Arzt ihn untersuchen konnte.
    »Du erinnerst dich wohl nicht mehr an mich, Sarah?«, fragte er, während er sich dem Arm widmete.
    Erstaunt, meinen Namen zu hören, musterte ich ihn gründlich. Daraufhin wandte Dr. Ames sich mir zu und sagte: »Ich war bei euch, um euch eine Nachricht von eurem Onkel Roger Toothaker zu bringen.« Da fiel mir der junge Arzt aus Haverhill wieder ein, der in Boston gewesen war, um dort die Gefangenen zu versorgen. Er hatte Vater die Nachricht übergeben, den Brief, den dieser gelesen und dann sofort ins Feuer geworfen hatte. Rasch holte der Arzt Verbände und Salbe aus seiner Tasche und behandelte Andrews Handgelenk. Als er fertig war, kümmerte er sich um Toms rissige Haut und auch um meine Handgelenke, die aufgescheuert waren und brannten wie Feuer.
    »Ich kenne deinen Vater«, meinte er, während er meine Handgelenke unter den Eisen mit Stoffstreifen umwickelte. »Oder besser gesagt, ich habe von ihm gehört. In Boston wird viel über ihn gesprochen. In gewissen Kreisen zumindest.«
    Mit kühlen, sanften Fingern verband er weiter meine Handgelenke, während ich ihn überrascht ansah. »Weißt du, wie dein Onkel gestorben ist?«
    »Es heißt, er sei vergiftet worden«, antwortete ich, erschrocken über seine Frage. »Vergiftet von … jemandem«, sprach ich weiter und blickte ihn zweifelnd an.
    Dr. Ames umfasste meine Hände mit schlanken Fingern und erwiderte leise: »Nein, Sarah, nicht von jemandem . Er hat es selbst getan.« Als ich etwas entgegnen wollte, fiel er mir ins Wort. »Ich weiß, was die Leute über deinen Vater reden. Es stimmt, dass er am Todestag deines Onkels bei ihm in der Zelle war. Und es ist ebenfalls wahr, dass dein Onkel ihn um Verzeihung angefleht hat. Er war beim Verhör gefoltert worden und wusste, dass er zu schwach sein würde, um nicht gegen euch, die Kinder, auszusagen. Dass er deine Mutter belastet hatte, bereute er sehr, und er wollte lieber sterben, als weiteren Schaden anzurichten. Allerdings glaube ich nicht, dass dein Vater seinen Tod herbeigeführt hat.«
    Als ich Tom ansah, zeigten mir seine Augen, dass ich nicht als Einzige überzeugt gewesen war, Vater hätte für uns einen Mord begangen. Ich erinnerte mich an Vaters Worte, der Onkel habe etwas Schlechtes zum Guten gewendet. »Was soll das heißen?«, erkundigte ich mich.
    Der Arzt senkte den Blick. »Dein Onkel stand unter großem Druck und klagte über Herzbeschwerden. Er bat mich, ihm Digitalis zu geben.« Ich kannte Digitalis nur als starkes Gift, doch auf meinen verständnislosen Blick hin erklärte er: »In kleinen Dosen verwendet man Digitalis bei unregelmäßig schlagendem Herzen. In größeren Mengen führt es jedoch innerhalb weniger Stunden zum Tode. Allerdings macht es für das ungeübte Auge dann oft den Eindruck, als habe das Herz von selbst den Dienst versagt. Einige Tage vor seinem Tod verlangte er eine ziemlich große Menge von mir, und da er selbst Arzt war, beugte ich mich seinem Fachwissen … Ich habe es ihm gegeben. Doch ehe ich mich von ihm verabschiedete, sagte ich noch zu ihm: ›Seien Sie sehr vorsichtig und nehmen Sie nur so viel, wie nötig ist.‹ Er hielt den kleinen Beutel mit den Kräutern hoch und erwiderte: ›Alles, was nötig ist, habe ich hier.‹«
    Vor meinem geistigen Auge sah ich den Onkel kalt, bleich und tot im schmutzigen Stroh seiner Zelle liegen. Das Mitgefühl, das mir vor so vielen Monaten vergangen war, als ich im Hof von Chandlers Gasthof eine Abreibung bezogen hatte, meldete sich zurück. Ich hielt in der Zelle Ausschau nach meiner Tante und meiner

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