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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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meiner Einsamkeit konnte ich nicht wählerisch sein.
    Beim Abendessen sahen wir fasziniert zu, wie Mercy die Speisen in sich hineinschaufelte. Sie aß mit den Fingern, ohne einen Krümel fallen zu lassen, und bewachte ihren Teller, als befürchte sie, jemand könne ihn ihr entreißen. Beim Abräumen zerbrach sie einen Teller. Obwohl Mutter ihr den gewissen Blick zuwarf, den wir inzwischen alle fürchteten, sammelte sie in aller Seelenruhe die Scherben ein. Danach wurden wir zu Bett geschickt. Vater hatte in der Wohnküche eine Trennwand gezogen, damit Mercy und ich ein eigenes kleines Zimmer hatten. Richard, Andrew und Tom schliefen auf dem Dachboden, und Hannah lag auf einer kleinen Pritsche neben Mercy und mir. Außerdem hatte Vater für sich und Mutter ein neues größeres Bett gebaut, denn das von Großmutter war viel zu kurz für seine langen Beine. Wir hatten das alte Bett bekommen. Als Mercy und ich die erste Nacht nebeneinanderlagen, nahm sie mir, ohne zu fragen, Margarets Puppe aus der Hand, betrachtete sie wie ein süßes Brötchen und drehte sie unsanft hin und her. Ihre Fingernägel waren abgekaut bis zu den Nagelbetten.
    »Wie ist es denn, gefangen zu sein?«, erkundigte ich mich. »War es sehr schlimm?«
    Offenbar hatte sie sich an der Nadel unter dem Rock der Puppe gestochen, denn sie stieß einen Schrei aus und drückte sie mir wieder in die Hand. »Lange nicht so schlimm, als wenn man eins über den Schädel kriegt.« Unvermittelt drehte sie sich um und schlief ein. Da sie so unangenehm roch, rückte ich von ihr ab und untersuchte die Puppe, um sicherzugehen, dass durch die grobe Behandlung keine Naht aufgeplatzt war. Während ich den roten Stoff streichelte, fragte ich mich, ob Margaret in diesem Moment wohl an mich dachte. Obwohl Mercy sich von meiner Cousine unterschied wie ein Kuhstärling von einer weißen Taube, hatte sie auch ihre guten Seiten. Manchmal wirkte sie träge und unbeholfen, dann wieder tauchte sie plötzlich lautlos hinter mir auf. Wenn ich mich umdrehte, ertappte ich sie manchmal dabei, wie sie eine Armeslänge entfernt von mir stand und mich auf eine Weise musterte, dass ich mir am liebsten schützend die Hand vor den Bauch gehalten hätte. Ihre Arbeit erledigte sie zur allgemeinen Zufriedenheit, denn sie war kräftig und beklagte sich nie. Allerdings gebärdete sie sich dabei stets, als befolge sie die Anweisungen nur, weil es ihr gerade in den Kram passte. Sie war noch nicht lange bei uns, als sie zum ersten Mal hinter dem Rücken meiner Mutter ein Gesicht schnitt. Mutter hatte ihr in ihrer üblichen brüsken Art etwas aufgetragen, doch sobald sie sich umdrehte, schürzte Mercy spöttisch die Lippen. Ich musste mir die Hand vor den Mund halten, um ein Lachen zu unterdrücken, und hatte das Gefühl, endlich eine Verbündete gefunden zu haben. Bald gewöhnte Mercy sich an, meiner Mutter Gehorsam vorzuspielen und sie zu verspotten, wenn sie aus dem Zimmer war.
    Eines Abends nach dem Essen erzählte ich die Geschichte, wie mein Onkel gegen die Naragansett gekämpft hatte, und zwar in der Hoffnung, Mercys Mitteilungsbedürfnis auf die Sprünge zu helfen, damit sie mir endlich ihre Gefangenschaft schilderte. Als ich fertig war, hörte ich zu meinem Erstaunen die Brummelstimme meines Vaters aus der Zimmerecke, wo er saß und ein Seil flocht. Beim Sprechen drehte er die Stränge fest zusammen. »In dem Dorf, das von General Winslows Männern überfallen wurde, hielten sich nur Frauen und alte Leute auf. Die Krieger waren nämlich in die Wälder gezogen, um auf die Jagd zu gehen. Noch nie hatten sie einem Engländer ein Haar gekrümmt. Und dennoch wurden alle ihre Kinder abgeschlachtet wie Rehkitze im Gehege. Ihre Leichen überließ man den Krähen und den Wölfen. Später kämpften die Naragansett dann an der Seite von König Philip, ein Krieg, der auf beiden Seiten viele Todesopfer forderte.«
    »Aber ich habe die Narbe gesehen, die er im Kampf gegen die Krieger davongetragen hat«, protestierte ich, denn ich vermutete, dass er nur neidisch auf den Mut des Onkels war.
    Vater wickelte das fertige Seil zwischen Ellenbogen und Hand zu ordentlichen Schlaufen. »Diese Narbe, die er so gerne vorzeigt, wurde ihm von einer Squaw zugefügt, die ihn mit einem Küchenmesser aufgeschlitzt hat, bevor man ihr den Kopf abschlug«, erwiderte er.
    Ich hörte Mercy, die gerade das Feuer nachschürte, kichern. Es kränkte mich zwar, dass sie sich über mich lustig machte, doch als unsere Blicke sich

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