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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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Gefangener frei, die entweder zurück zu ihren Familien oder als Schuldsklaven in das Haus von Fremden geschickt wurden. Wegen eines Lösegelds von zwanzig Musketen musste Mercy nun fünf Jahre lang in Schuldknechtschaft leben. Großmutter hatte in Andover ein ordentliches Stück Land besessen. Es waren beinahe anderthalb Hektar fruchtbarer Boden, sodass wir im Frühjahr Hilfe brauchen würden, um die Felder für die Aussaat vorzubereiten. Mutter hatte zudem einen Beutel mit Münzen geerbt, den Großmutter ihr auf dem Totenbett übergeben hatte, was hieß, dass wir weiteres Saatgut kaufen konnten. An den ersten warmen Tagen wollten wir zweitausend Quadratmeter Heuwiese und jeweils einen halben Hektar Mais und Weizen säen. Mit einem robusten Pflug und einem Ochsen konnten zwei erwachsene Männer etwa einen halben Hektar am Tag bewältigen. Allerdings war der Boden in Essex County von Steinen durchsetzt wie der Strand von Casco Bay mit Muscheln. Da selbst der beste Pflug machtlos dagegen war, musste man vor dem Furchenziehen erst einige Bäume mit der Axt fällen, dann das Gestrüpp mit Hacken und Feuer roden und zu guter Letzt die schweren Felsstücke mit der Hand ausgraben. Eigentlich hätte Vater einen Knecht bevorzugt, doch da wir uns die Ablöse für einen männlichen Schuldsklaven nicht leisten konnten, gaben wir uns mit einem Waisenmädchen zufrieden, das sonst niemand wollte. Warum die Ablöse für Mercy Williams so günstig gewesen war, sollten wir allerdings bald erfahren.
    In der ersten Maiwoche kam sie zu uns. Sie trat hinter meinem Vater ein, der sich durch die Tür ducken musste, stand mit verschränkten Armen da und musterte uns ebenso von Kopf bis Fuß wie umgekehrt. Nach einem Blick auf sie schickte Mutter sie hinaus, damit sie sich wusch. Ich hatte den Auftrag, sie zu begleiten und ihren Kopf auf Nissen zu untersuchen. Während ich einen Topf mit Bachwasser füllte, saß sie, breitbeinig wie ein Mann, da und beobachtete mich. Dann fächelte sie sich mit ihrer Schürze Kühlung zu, und ich stellte entsetzt fest, dass sie unter ihrem Rock keinen Unterrock trug. Ihre Beine waren so gebräunt wie ihre Arme, und als sie meine Neugier bemerkte, zog sie den Rock hoch über die Schenkel. Vater hatte sie uns als junges Mädchen beschrieben, doch ihre Oberschenkel waren muskulös wie die eines Jungen, und ihr Blick sorgte dafür, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. Wie Lazarus, der von den Toten auferstanden war, hatte sie Dinge erlebt, die ich nur aus den Erzählungen meines Onkels kannte. Sie hatte den langen Marsch nach Kanada und auch ihre Erinnerungen an diese Zeit überstanden, und so siegte meine Neugier über meine moralische Entrüstung. »Wie alt bist du?«, fragte ich sie.
    Sie sah mich an und grinste schief, als sei ihre eine Gesichtshälfte gelähmt. »So ungefähr siebzehn.« Dann wandte sie sich ab, spuckte aus und murmelte ein paar Worte, die nicht wie Englisch klangen. Ich reichte ihr den Topf Wasser und ein Stück grobe Kernseife, die sie beschnupperte und weglegte. Dann krempelte sie sich die Ärmel hoch und schrubbte sich, nur mit Wasser, die Arme und das pockennarbige Gesicht. Auch nach dem Waschen haftete ihr ein säuerlicher Geruch an, der an verdorbene Milch oder schlecht gegerbtes Leder erinnerte. Da sie kaum Haare auf dem Kopf hatte, ging die Suche nach Läusen ziemlich schnell vonstatten. Ich vermutete, sie könnte skalpiert worden sein, doch als ich mich später bei Richard danach erkundigte, erklärte er mir, dass in diesem Fall auch die obere Hälfte ihres Schädels fehlen müsste.
    »Wie lange warst du denn bei den Indianern?«, wollte ich wissen, während ich ihr verfilztes Haar nach Kriechtieren durchkämmte.
    »Vielleicht drei Jahre, können auch mehr gewesen sein«, meinte sie und kratzte sich am Nacken. Als der Kamm in ihrem verknoteten Haar hängen blieb, schlossen sich ihre Finger blitzschnell wie eine Kornnatter um mein Handgelenk. Dann nahm sie mir den Kamm ab und legte ihn weg und betastete eine meiner Haarsträhnen, die mir unter der Haube hervorgerutscht war. Weil ich Mitleid mit ihr hatte, lächelte ich ihr zu, um ihr meine Anteilnahme zu zeigen. Sie erwiderte das Lächeln, wieder in Form einer einseitigen Grimasse. »Aber jetzt bin ich ja zu Hause, richtig?«, stellte sie fest. Als ich ihr zurück zum Haus folgte, pfiff sie ein Lied vor sich hin. Mutter hatte einmal gesagt, vor pfeifenden Frauen und krähenden Hennen müsse man sich in Acht nehmen. Aber in

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