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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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und trocken.
    »Ja«, wiederholte ich, »ein Wiesenchampignon.«
    »Dann iss ihn«, forderte Mutter mich auf.
    Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich in die Hocke ging. Ein schwacher Trost, sagte ich mir, öffnete den Mund und wollte den Pilz schon hineinstecken. Doch im nächsten Moment umfasste Mutter mit eisernem Griff mein Handgelenk, sodass der Pilz wenige Zentimeter vor meiner Zunge in der Luft schwebte. Ihr Gesicht war ganz dicht bei meinem, und ich bemerkte zum ersten Mal, dass ihre haselnussbraunen Augen blaue und bernsteinfarbene Sprenkel aufwiesen.
    »Sarah, schau unter den Hut«, wies sie mich an und drehte mir die Hand herum, sodass die Unterseite des Pilzes in Sicht kam. Die Lamellen waren weiß, und rings um den Stiel verlief ein weißer Ring, der an ein Röckchen erinnerte. »Das ist ein Knollenblätterpilz. Wenn du ihn essen würdest, würdest du ganz sicher sterben. Nicht heute und vielleicht auch nicht morgen. Aber wenn du erst vier Tage lang jeden Tropfen Wasser durch Mund und Hintern ausgeschieden hast, würdest du dich auf den Tod freuen.«
    Als sie mich losließ, warf ich den Pilz in hohem Bogen weg wie eine brennende Fackel und wischte mir beide Hände an der Schürze ab.
    »Die Unterschiede sind oft kaum zu erkennen. Du musst aufmerksam hinsehen, und zwar nicht nur von oben, sondern auch von der Unterseite, wo sich das Gift häufig sammelt. Ein junger Wiesenchampignon hat rosige Lamellen, die sich bei der Reifung braun verfärben. Wenn du es nicht besser wüsstest, würdest du die dunkle Unterseite für giftig und die helle für essbar halten. Morcheln sind manchmal ebenfalls dunkel, haben jedoch immer eine unebene Oberfläche, während die falsche Morchel dunkel und glatt ist. Also kann in der Natur etwas Buckeliges nahrhaft sein, während eine glatte hübsche Haut Vernichtung und Tod bedeutet. Auch Menschen sind oft nicht das, was sie scheinen, nicht einmal diejenigen, die du liebst. Du musst besser hinschauen, Sarah.«
    Die warmen Sonnenstrahlen, die sanfte kühle Brise und die samtigen Motten, die meinen Kopf umschwirrten, das alles schien nicht so recht zu den Worten meiner Mutter zu passen. Von ihrem Griff tat mir noch das Handgelenk weh, und ich wollte endlich nach Hause gehen. Doch sie war mit ihrem Vortrag noch nicht ganz fertig.
    »Du liebst deine Cousine und meine Schwester, was nur natürlich ist. Deinen Onkel aber vergötterst du, und der hat deine Liebe nicht verdient. Er ist ein Mensch, der von außen betrachtet freundlich und leutselig wirkt, doch innerlich ist sein Herz erfüllt von Gift. Wenn er die Möglichkeit dazu hätte, würde er dich aus dem Haus werfen, und zwar schneller, als er die Stiefel ausziehen kann. Seine Familie beugt sich seinen Wünschen. Vor langer Zeit hat er schon einmal etwas Ähnliches getan und deinen Vater und mich um ein Stück Land betrogen, das rechtmäßig uns gehörte. Dein Onkel hat zwei Gesichter und setzt selbst jetzt alles daran, unseren guten Ruf in Andover zu beschädigen.«
    Ich musste an Onkels Täuschungsmanöver bei seinen Zaubertricks denken, wollte mich aber nicht überzeugen lassen. »Dabei brauchst du doch keine Hilfe«, murmelte ich deshalb und machte mich schon auf eine Ohrfeige gefasst. Aber sie wich nur zurück, als hätte ich sie geschlagen, und schlang die Hände um die Knie. Wie sie so überrascht Mund und Augen aufriss, sah sie viel jünger und unbefangener aus als sonst. Doch im nächsten Moment verdüsterte sich ihre Miene. Die bernsteinfarbenen Pünktchen in ihren Augen gewannen die Oberhand über die blauen, und sie starrte mich so lange an, bis ich den Blick senkte und mir auf die Lippe biss. Wieder ließ ein Kardinal sein »Quiwitt, quiwitt« ertönen, und ein Artgenosse auf der anderen Seite der Wiese gab ihm die Antwort. Mutter öffnete den Mund, um mich zu tadeln, schloss ihn aber wieder, und ich merkte ihr an, wie schwer es ihr fiel, sich die Retourkutsche zu verkneifen. Es war, als müsse sie eine Distel schlucken, die versehentlich in den Salat geraten war.
    »Es gibt ein altes Sprichwort«, meinte sie nach einer Weile, während sie geistesabwesend an einigen Ranken herumnestelte, die rings um ihren Rock wuchsen. »Und es trifft heute noch genauso zu wie früher. Es lautet: ›Wenn nicht für den König, dann für das Land. Wenn nicht für das Land, dann für die Sippe. Wenn nicht für die Sippe, dann für den Bruder. Wenn nicht für den Bruder, dann nur noch für das eigene Haus.‹ Verstehst du, was ich

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