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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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auf und nieder zu springen und in die Hände zu klatschen.
    »Aber zuerst fesseln wir sie an den Stein«, ergänzte Phoebe.
    Mary grub ihre Fingernägel so fest in meine Schultern, dass die Haut aufplatzte. »Ich wäre dafür, sie gleich in einem der Gräber zu verbuddeln.«
    Da hörte ich, wie jemand im Hof des Versammlungshauses meinen Namen rief. »Sie ist hier bei uns, Reverend Dane«, erwiderte Mary. »Um Himmels willen, lass sie los«, zischte sie Mercy zu.
    Wieder beugte sich Mercy zu meinem Ohr. »Erinnerst du dich an die Geschichte von Robert Rogers, der von den Indianern gehäutet wurde?«, flüsterte sie so leise wie ein Liebender. »Ich habe gelogen. Robert Rogers lebte noch, als sie ihn angezündet haben. Ein Wort, und ich komme eines Nachts zu dir und verbrenne dich bei lebendigem Leibe in deinem Bett.« Mit diesen Worten stieß sie mich grob weg, stand auf und klopfte sich das Laub vom Rock. Dann wandte sie sich lächelnd an den Reverend. »Sarah ist beim Laufen zwischen den Grabsteinen gestolpert. Wir wollen ihr nur aufhelfen.«
    Ich achtete nicht auf ihre ausgestreckte Hand, doch der Blick, der ihrem Arm folgte wie der Feuerschweif eines Kometen, entging mir nicht. Der Reverend begleitete mich zum wartenden Wagen, stand da und winkte uns nach, bis wir an den krummen Eichen vorbeigefahren waren, die den Eingang zum alten Friedhof bildeten. Hinter ihm in der Ferne standen, dicht zusammengedrängt, reglos und aufmerksam, drei Gestalten, die Röcke trugen. Sie winkten nicht.

    Ende Oktober setzte der Herbst richtig ein. Die Tage waren zwar noch warm, doch die Abende wurden kühler, und nach einer Weile begann der Boden, einen muffigen Geruch zu verströmen, der an eine nasse Decke oder in einem Glas zerstoßene Pfefferminze erinnerte. Morgens und abends verdunkelten Schwärme von Wandertauben, zu viele, um sie zu zählen, auf dem Weg nach Süden den Himmel. Ihr Abschied stimmte mich traurig, so als ließen meine wahren Vertrauten mich im Stich, während ich hierbleiben und wieder eine kalte und unerträglich düstere Jahreszeit erdulden musste. Das abendliche Aufflackern und Verlöschen der Glut im Kamin ließ mich an dunkle und urzeitliche Orte denken. Nur nachts in meinen Träumen konnte ich den irdischen Fesseln entfliehen, flog selbst auch dorthin und wachte morgens mit einem verkrampften, sehnsüchtigen Schmerz in der Brust auf. Die Bilder, die sich in meinem Kopf breitmachten, sorgten dafür, dass ich unruhig und kribbelig wurde und missmutig durchs Haus wanderte. Meine einzige Abwechslung war, auf dem Sunset Rock zu stehen, mir den Westwind um die Nase wehen zu lassen, der von der fünfundvierzig Kilometer entfernten Boston Bay heranpfiff, und die letzten Reste salziger Luft zu atmen, die aus den Mooren von Cat Swamp aufstiegen.
    Im Garten neben dem Brunnen fand ich eine grobe Tonscherbe. Ich hielt sie in der Hand und bewunderte die aufgemalten Muster, die sich darüberschlängelten. Sie war sehr alt und im Laufe der Jahre vom Wetter und Erdbewegungen abgeschliffen worden. Außerdem waren winzige Kerben darin eingeritzt. Ich fuhr mit dem Fingernagel darüber, in der Hoffnung, dem Ton das Geräusch des Künstlers zu entlocken, so wie man an der Saite einer Geige zupft, um sie zum Klingen zu bringen. Als ich meinen Vater suchen ging, war er gerade dabei, mit Bärenfett zwei Biberfallen zu schmieren, die meinem Großvater gehört hatten. Er wollte sie an der südlichen Gabelung des Shawshin aufstellen und die so erbeuteten Felle gegen einen neuen Zuckerhut eintauschen, der uns über den Winter bringen würde. Als ich ihm die Tonscherbe zeigte, musterte er sie eine Weile. »Die stammt nicht von den Naragans oder den Abanak, denn die haben keine Töpferscheiben«, sagte er.
    »Von wem dann, Vater?«, fragte ich, erfüllt von Ehrfurcht, weil ich etwas in der Hand hielt, das so alt war wie der Boden unter meinen Füßen.
    Er rieb mit seinen knorrigen Fingern über die zernarbte Oberfläche der Tonscherbe. »Von Menschen, die lange vor den Indianern lebten und inzwischen ausgestorben sind«, erwiderte er. »Das ist der Lauf der Welt, Sarah. Man baut auf die Knochen derer, die vor einem da waren. Und so wird es immer bleiben.«
    In jener Nacht im Bett beschloss ich, die Tonscherbe Margaret zu geben, denn ich fühlte mich nicht in der Lage, etwas zu nähen oder zu basteln, das ihrem Geschenk ebenbürtig war. Nun jedoch hatte ich etwas Außergewöhnliches, Wunderschönes und Seltenes vorzuweisen, um mich zu

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