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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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konnte weder essen noch schlafen und lief genauso im Haus auf und ab wie du. Meine Mutter brachte mich hierher und meinte zu mir: ›Dieses eine Mal, bis du erwachsen bist, kannst du mir sagen, was du willst. Erzähl mir, warum du auf mich oder auf die Welt wütend bist. Ich werde dich weder tadeln noch bestrafen und niemandem ein Sterbenswörtchen davon verraten.‹«
    Mutter hielt inne, wandte ihr Gesicht zur Sonne und genoss mit geschlossenen Augen die Wärme. »Sie hat mir erklärt, Ärger in sich aufzustauen, das sei so, als bewahre man Getreide in einer Regentonne mit Deckel auf. In der Dunkelheit und Feuchtigkeit keimen die Samen, doch weil Licht und Luft fehlen, wird das Getreide bald verderben. Und so schilderte ich ihr meinen Zorn und meine Beschwerden. Sie hörte mir zu, und als wir das Feld verließen, hielt sie Wort. Über diese Dinge wurde nie wieder gesprochen, doch ich fühlte mich erleichtert, und das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter entspannte sich.«
    Sie schlug die Augen auf und blickte mich fragend an. Eine Weile musterten wir einander schweigend, aber ich wusste genau, worauf sie hinauswollte: Ich sollte ihr meine hasserfüllten Gedanken offenbaren. Allerdings glaubte ich nicht, dass sie Großmutters Güte besaß, und traute ihr deshalb auch kein Verständnis für meine Enttäuschungen und schmerzlichen Verluste zu. Und warum hatte Großmutter ihrer Tochter so viele Jahre später für eine Weile sogar das Haus verboten, wenn zwischen ihnen eine solche Eintracht geherrscht hatte? Außerdem war da noch etwas, das ich ihr niemals hätte gestehen können, nämlich wie verzweifelt ich darum gebetet hatte, zu Margaret und ihrer Familie zurückkehren zu dürfen. So zornig mich meine Mutter auch machte, ich konnte ihr unmöglich beichten, dass ich ihr den Tod gewünscht hatte. Deshalb starrte ich weiter ins wogende Gras und hielt meinen Rücken so steif, wie Mutter es sonst immer tat. Sie seufzte müde und schicksalsergeben auf. »Du bist so verhärtet«, sagte sie, wobei sie jedes Wort betonte.
    »So hast du mich gemacht«, entgegnete ich erbittert.
    »Nein, Sarah, diese Härte ist angeboren.« Sie stellte sich vor mich hin und fügte leise hinzu: »Doch ich habe wenig dazu beigetragen, dass du weicher wirst.« Von ihrer plötzlichen Anteilnahme verwirrt, kehrte ich ihr den Rücken zu. Ich sah das Gras nur noch durch einen Tränenschleier, obwohl ich auf keinen Fall weinen wollte.
    »Glaubst du, ich wüsste nicht, was du dir wünschst?«, sprach sie in gereiztem Ton weiter, und ich rechnete schon damit, dass sie mich fest am Arm packen würde. Aber sie berührte mich nicht, sondern hielt Abstand und fuhr mit gepresster Stimme fort: »Offenbar werden wir beide noch eine Weile mit diesen Spannungen leben müssen. Also lass uns über erfreulichere Dinge sprechen.« Sie begann, anscheinend ziellos, umherzuschlendern, und schob mit dem Fuß immer wieder Zweiglein oder Laubhaufen beiseite. Schließlich kniete sie sich hin, sodass sich der dunkle Rock um ihre Beine bauschte, und wies auf etwas Weißes, das unter einem Stück Rinde hervorlugte. Als sie mich rief, kam ich widerstrebend näher, stellte mich neben sie und sah, dass sie einen Pilz gefunden hatte. Ich war schon oft mit ihr beim Pilzesammeln gewesen. Im Mai wuchsen im verwilderten Apfelhain die Morcheln, in den heißen Sommermonaten wucherten Gruppen von Schwämmen an den Stämmen von Ulmen und Eschen, und am Ufer des Skug River ließen sich häufig Tintlinge finden. Allerdings war das Pilzesammeln eine heikle Angelegenheit, denn man musste die essbaren von den giftigen Sorten unterscheiden können, die sich teilweise stark ähnelten. Wer unvorsichtig war, handelte sich leicht den Tod in Form eines milchweißen Hutes oder einer violetten Lamelle ein.
    »Weißt du, was das ist?«, fragte Mutter, nahm die Haube ab und ließ ihr schwarzes Haar im Wind wehen.
    »Ein Wiesenchampignon«, erwiderte ich, so gelangweilt wie möglich.
    »Bist du sicher?«, hakte sie nach, woraufhin ich nickte und mit einem ungeduldigen Aufstöhnen wieder die Arme verschränkte.
    Wiesenchampignons konnte man frisch gepflückt essen. Sie verströmten einen kräftigen erdigen Geruch und waren fest im Biss. Ein Dutzend davon, gekocht in einer Brühe aus getrocknetem Fett, ergaben einen kräftigen Fond, der überdeckte, dass im Eintopf das Fleisch fehlte. Der Pilz hatte einen weißen Hut mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern und einen kurzen Stiel und war glatt

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