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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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Haus. Wahrscheinlich würde Andrew noch heute dort stehen, wenn ich ihn nicht an der Hand genommen und ihm erklärt hätte, dass es nun Zeit sei, zu gehen. In der Küche gab Mutter mir einen Eimer und bat mich, in Chandlers Gasthof Bier zu holen. Sie wickelte ein paar kostbare Münzen in ein Taschentuch, das sie fest an meine Schürze knotete. William Chandler ließ sich zwar für Unterbringung und Verpflegung in Naturalien bezahlen, allerdings nicht für Alkohol. Da der Lieferant in Boston Geld von ihm verlangte, musste er es bei seiner Kundschaft eintreiben. Meistens holte Vater das Bier im Gasthof, doch er war schon vor Morgengrauen losgezogen, um nach seinen Fallen am Fluss zu sehen. Wenn wir Glück hatten, würde es neben dem Schweinefleisch zum Abendessen auch noch gebratene Biberschwänze geben.
    Als ich das kurze Stück die Hauptstraße entlang zum Gasthof ging, fiel mir ein, dass Richard Vater erzählt hatte, in Boston gebe es ein neues Getränk. Es käme aus der Karibik und werde in den Tavernen an die Seeleute ausgeschenkt, die Landgang hatten. Das Getränk hieße Rum und sei viel stärker als Bier. Daraufhin erklärte Vater Richard, wer diesen Rum tränke, hätte gute Chancen, am nächsten Morgen auf einem Schiff auf hoher See zu erwachen, denn im berauschten Zustand sei man leichte Beute für die Zwangsanwerber. Ich schritt im Marschtempo aus und sang dabei »Rum, Rum, Rum« vor mich hin
    Kurz darauf erreichte ich den Gasthof, wo ich sah, wie Phoebe Chandler sich damit abmühte, einen vollen Wassereimer aus dem Brunnen zu ziehen. Eine Weile stand ich da, beobachtete genüsslich, wie sie an den schweren Seilen zerrte, voller Hoffnung, sie würde hineinfallen, bevor es ihr gelang, den Eimer über den Brunnenrand zu hieven. Schließlich stützte sie atemlos den Eimer auf, hob den Kopf und bemerkte mich. Offenbar machte es den Eindruck, als sei ich plötzlich aus dem Nichts erschienen, denn sie zuckte erschrocken zusammen. Dann warf sie mir einen hasserfüllten Blick zu, rannte durch eine Seitentür in den Gasthof und knallte diese hinter sich zu. Ich trat durch die Vordertür ein wie eine Königin. Drinnen war es dunkel. Der Geruch von gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase und mischte sich mit dem süßlichen Gestank von verdorbenen Kutteln oder schlecht geräuchertem Fisch. Goodwife Chandler war nämlich eine geizige Köchin und kippte Innereien und die Suppenreste von den Tellern der Gäste in den Kessel, damit immer genug im Haus war, um ihre Gäste von Sabbat bis Sabbat zu verköstigen.
    Die verqualmte, muffige Gaststube erinnerte an eine kleine Höhle. Im Kamin brannte ein großes Feuer, und an den wenigen Tischen saßen Männer, die auf ihr Mittagessen warteten. Den Platz am Kamin hatte ein Mann ergattert, den ich nur zu gut kannte. Ich sah sein Gesicht im Profil, sodass sich seine hohe gewölbte Stirn scharf vom Schein des Feuers abhob. Über ihn beugte sich Mercy Williams, um ihm ein Getränk zu servieren. Als sie Bier aus einem Krug in den Becher des Onkels goss, streifte er mit dem Finger leicht ihr Mieder, dort, wo sich die Brustwarzen befanden. Die Berührung hätte rein zufällig sein können, ein unbeabsichtigtes Zusammenstoßen von Haut und Wolle. Doch dann bemerkte ich das schiefe Lächeln auf Mercys Gesicht und wusste, dass sie es herbeigeführt hatte. Da schlüpfte Phoebe aus der Küche ihrer Mutter in den Raum und spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Dämmerlicht. Nachdem Mercy sich aufgerichtet und den Krug in die Hüfte gestemmt hatte, sah sie mich unverwandt an, als hätte sie die ganze Zeit über gewusst, dass ich dort im Schatten stand. Im nächsten Moment kam Goodwife Chandler, einen Lappen in der Hand, herein. An ihren geschürzten Lippen und ihrem argwöhnischen Blick erkannte ich, dass Mercy offenbar ihr eigenes widerliches Gebräu angesetzt hatte.
    Männer spüren immer als Letzte, was Frauen wissen, indem sie erahnen, was in der Luft liegt. Deshalb hat Gott Adam ja auch mit der überlegenen Körperkraft ausgestattet, um diese ungerechten Machtverhältnisse auszugleichen. Denn wenn Eva die Möglichkeit gehabt hätte, ihre Hinterlist und Grausamkeit ungehindert auszuleben, hätte die ganze Menschheit schrecklich darunter zu leiden gehabt. Vermutlich hätten der Erzengel und Adam einander umgerannt, um dem Paradies so schnell wie möglich zu entfliehen. Die drei starrten mich an, bis einer der Männer Magenknurren bekam und etwas zu essen verlangte. Der Onkel drehte sich

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