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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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dir damit erklären will?«
    »Wenn du von mir verlangst, dass ich meine Liebe zu Margaret aufgebe, nur weil du Streit mit dem Onkel hast, lautet meine Antwort nein. Du kannst es auch nicht aus mir herausprügeln. Margaret bedeutet mir alles.« Ich hatte die Stimme erhoben, und mir wurde klar, dass es ihr gelungen war, mir trotz meines Widerstands mein Geheimnis zu entlocken.
    Mutter wandte den Blick ab, als käme ihr ein unbekleideter Fremder entgegen, und wartete, bis ich meine Verzweiflung wieder hinter die Wut zurückgedrängt hatte. »Du bist in erster Linie deiner eigenen Familie verpflichtet«, verkündete sie dann mit Nachdruck. » Familienzusammenhalt ist das Allerwichtigste im Leben.« Sie schaute zu dem Sumpf im Süden hinüber, wo sich der Nebel langsam auflöste. »Im November wirst du zehn Jahre alt«, fuhr sie leise fort. »Bald bist du kein Kind mehr, sondern eine Frau. Allerdings ist das nicht so einfach, als träte man über eine Türschwelle. Es ähnelt eher einem Weg durch einen langen Korridor. Ich hatte gehofft, dass wir beide heute … zu einer Übereinkunft kommen, aber wir sind uns noch immer nicht einig. Damit werde ich mich wohl abfinden müssen. Dennoch will ich dir etwas sagen. Etwas, das dir sehr wehtun wird.«
    Ihre Worte ließen mich aufmerken, denn ich hoffte, endlich tiefere Einblicke in die Angelegenheit zu erhalten, die aus Mercy beinahe ein gefallenes Mädchen gemacht hätte. Wenn ja, hatte sie Zeitpunkt und Ort gut gewählt, denn ich wusste, dass »Pilz« oft als anderer Ausdruck für den Stängel eines Mannes verwendet wurde. Besagtes Körperteil hatte ich bereits bei meinen Brüdern gesehen und war nicht sonderlich beeindruckt davon gewesen. Tom und Richard genierten sich zwar, sich in meiner Gegenwart zu entkleiden, doch in der räumlichen Enge ließ sich mancher Einblick nicht vermeiden. Andrew hingegen hatte mit dem Verstand auch sein Schamgefühl verloren und tat nichts, um sich zu verbergen, wenn er auf dem Feld oder hinter der Scheune Wasser lassen musste. Beim Anblick des kläglichen, bleichen Dings war für mich unvorstellbar gewesen, dass man einer Frau damit wehtun konnte oder dass es irgendeinen Zweck erfüllte, wenn man einmal von seiner Rolle bei der Entstehung einer Schwangerschaft absah.
    Aber zu meiner großen Enttäuschung sagte Mutter nur: »Das Leben besteht nicht daraus, was man hat oder was man behalten darf, sondern aus den Verlusten, die man ertragen kann. Vielleicht wird dir nichts anderes übrig bleiben, als Margaret zu vergessen.«
    »Nein«, entgegnete ich und stand auf. In meinem Wunsch, ihren beharrlichen Forderungen zu entfliehen, war ich so verkrampft, dass die Sehnen an meinen Beinen knackten. Ich blinzelte ein paar Mal und wartete darauf, dass sie fortfuhr, doch sie schwieg. Da die Sonne ihr voll ins Gesicht schien, war der Blick, den sie mir zuwarf, nicht zu übersehen. Der Ausdruck, der sich darin malte, war grausamer als Zorn, schrecklicher als Stolz und schmerzlicher noch als Bedauern: Mitleid. Wortlos erhob sie sich, setzte die Haube auf und ging los. Die Sonne war hinter einer aufgetürmten Wolkenbank verschwunden, und plötzlich kam ein kühler Wind auf, der die Gräser zauste.
    Zu meinen Füßen sah ich ein einsames Waldveilchen, das in der Brise zitterte. Eigentlich war das Veilchen ja eine Frühlingsblume, aber wenn das Wetter mild war, blühte es ganz selten auch einmal im Herbst. Die Blüte war dunkelviolett, die Blätter teilten sich wie die Klauen eines Vogels. Ich fühlte mich an den westindischen Fink erinnert, den ich in Andover auf dem Markt gesehen hatte. Einige Jungen hatten die Finger durch das Käfiggitter gesteckt und es geschüttelt, um den Fink zum Auffliegen zu bringen. Der Vogel jedoch hatte sich nur hartnäckig an seine Stange geklammert und am ganzen Leibe gebebt, sodass man durch das Gefieder sein Herz klopfen sah. Es machte mich sehr traurig, dass die Blume - ebenso wie der Vogel - bald eingehen und ganz allein hier erfrieren würde, während ihre Schönheit im ersten Schnee versank. Ich hastete hinter Mutter her, weil ich nicht so nah beim Sumpf allein sein wollte.
    Das nächste Mal sollten meine Mutter und ich Gibbet Plain in einer dunklen Neumondnacht und voller blühender Frühlingsblumen sehen. Es würde an einem Montag sein, und zwar am 30. Mai 1692. In den Wäldern würde die Feuerlilie wachsen und auf den Wiesen die Sterndolde mit ihren hübschen gelben Blüten gedeihen. Lediglich die Blüten der nur

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