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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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revanchieren. Als ich die Augen schloss und einschlief, träumte ich, ich hätte mich in einem Maisfeld verirrt. Ich hörte, wie Margaret mich rief, doch immer, wenn ich ihrer Stimme folgen wollte, verschwand sie zwischen den Stängeln. Schließlich führte mich die Stimme an den Rand eines Brunnens, wo sie aus der Tiefe des Wassers zu mir hinaufdrang. Auf dem Brunnenrand lag eine glänzende Tonscherbe, die nass war, als wäre sie aus dem Schacht aufgestiegen. Die Stimme, die aus dem Brunnen schwebte, veränderte sich immer wieder. Inzwischen war es nicht mehr Margarets Stimme, sondern die eines anderen Mädchens, das immer wieder Schreie ausstieß. Ich ging zum Brunnenrand, spähte in die violettfarbene Tiefe hinunter und sah, gespiegelt in der dunklen Wasserfläche, mein eigenes Gesicht. Beim Aufwachen waren meine Wangen tränennass, und ich hatte ein hohles Gefühl in der Brust.
    Von diesem Morgen an ergriff die Wut immer mehr Besitz von mir, und in meinem Zorn und meiner Verbitterung kam ich zu dem Schluss, dass ich all die vielen Verluste einzig und allein meiner Mutter zu verdanken hatte. Ihre Selbstsucht war schuld daran, dass ich aus der Familie meines Onkels gerissen worden war. Nur aufgrund ihrer Unbeherrschtheit besuchte der Onkel uns nicht mehr und hatte es vielleicht sogar seiner Familie verboten. Wegen ihrer spitzen Zunge mieden uns die Nachbarn und verbreiteten im Dorf und in Chandlers Gasthof Gerüchte über uns. Ich fand sogar Rechtfertigungen für Mercys zahlreiche Charakterfehler und sah großzügig über ihre Arglist, ihre Diebstähle und ihre Gewalttätigkeit hinweg, um es Mutter zum Vorwurf machen zu können, dass sie sie aus dem Haus geworfen hatte. Doch am allermeisten grollte ich ihr wegen des Todes meiner Großmutter, als ob Mutter diesen durch Nachlässigkeit verursacht hätte. Und als sich eines Tages genug Hass in mir aufgestaut hatte, stieß ich einen langgezogenen Schrei der Verzweiflung aus. Mutter erschrak derart, dass sie den Zwiebelzopf fallen ließ, den sie gerade zum Trocknen über den Herd hängen wollte. Ich baute mich vor ihr auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Warum musst du mir jeden Menschen wegnehmen, den ich liebe?«, brüllte ich.
    Wortlos griff sie nach ihrem Umhang und bedeutete mir, ihr ins Freie zu folgen. Da ich mit einer Tracht Prügel und einer raschen Rückkehr rechnete, sparte ich mir den Mantel, und die kalte Morgenluft leckte an meiner schweißbedeckten Lippe wie ein Hund an einem Salzstein. Jetzt ist es so weit, dachte ich. Jetzt wird sie mich endlich umbringen und meine Knochen auf dem Feld verscharren.
    Mit finsterer Miene folgte ich ihr über den erhöhten Weg und durch die längst abgeernteten Felder in Richtung von Robert Russells Farm. Sie bringt mich zu Robert Russell, damit ich dort als Dienstmädchen arbeite, sagte ich mir da. Doch wir ließen sein Haus hinter uns liegen und wandten uns nach Süden in den Nadelwald, der Gibbet Plain umgab. Ich hörte, wie ein Kardinal »Quiwitt, quiwitt« rief, und bereute es, keinen Mantel angezogen zu haben, denn der Wind war kühler geworden, sodass mir die Haare an den Armen zu Berge standen. Ich trottete hinter Mutter her, die selbstbewusst zwischen den Bäumen einherschritt, und überlegte, ob sie, mit mir im Schlepptau, wohl den ganzen Weg nach Reading zu Fuß gehen wollte. Nachdem wir durch die Zweige einiger spärlich stehender Föhren gebrochen waren, befanden wir uns auf Gibbet Plain, einer großen Wiese, wo einige Baumgruppen standen und die auf drei Seiten von Wasser umgeben war. Im Osten floss der Skug River, im Westen befand sich der Foster’s Pond, und im Süden lag ein Sumpf, der keinen Namen hatte, denn man glaubte, dass die Geister der Erhängten dort herumspukten. Als ich die gewaltige, von grünen und gelben und manchmal kniehohen Gräsern bewachsene Fläche betrachtete, hob sich meine Stimmung trotz meiner Versuche, sie mit verschränkten Armen und vorgeschobenem Kinn zu dämpfen.
    »Als Mädchen war ich oft mit Mary hier«, sagte Mutter. Obwohl mir klar war, dass sie damit Margarets Mutter Tante Mary meinte, konnte ich mir nur schwer vorstellen, wie meine so steife Mutter als Mädchen durch die Felder getollt war. »Das erste Mal war ich mit deiner Großmutter auf dieser Wiese. Damals war ich so alt wie du oder ein bisschen jünger. Seit einer Weile schon war ich böse auf sie, auch wenn ich mich an den Grund nicht mehr erinnern kann. Jedenfalls war ich schon ganz krank vor Zorn,

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