Die Tochter der Ketzerin
Monaten freikommen, weil ihr Vater so lange brauchte, um die erforderliche Kaution aufzutreiben. In jener Nacht im Bett, Hannah schlief schon, ließ ich den Tränen der Trauer und des Zorns freien Lauf. Ich biss in mein Kopfkissen und zerrte so lange an der Decke, bis sich die Nähte auftrennten. Irgendwann in der Nacht träumte ich von durch die Brust aufgespießten Amseln, die auf Stecken zappelten.
Wenn wir die Zukunft in ihrem vollen Ausmaß vorhersagen könnten, würden viele von uns sicher verzweifelte Schritte unternehmen, um sie zu beeinflussen. Was wäre, wenn unsere hellseherische Gabe uns den Verlust unseres Zuhauses, unserer Familien, ja, sogar unseres Lebens in Aussicht stellen und uns zuflüstern würde, wir bräuchten nur unsere kostbaren Seelen zu verkaufen, um all das zu verhindern? Wer von uns würde nicht eine nicht fassbare Sache gegen etwas eintauschen, das man in der Hand halten kann? Ich glaube, die meisten würden sich von ihrer unsterblichen Seele ebenso mühelos trennen, wie man die Haut von einer gekochten Pflaume löst, wenn sie dafür noch ein Weilchen auf Erden bleiben dürfen, den Magen voll, das Bett warm und ein schützendes Dach über dem Kopf.
Meine Mutter hingegen hatte sich anders entschieden und würde den Preis für ihre Überzeugung bezahlen. Sie war zu eigensinnig, zu unverblümt und zu wenig unterwürfig gegenüber ihren Richtern, während sie ihre Unschuld beteuerte, sodass sie vermutlich eher dafür bestraft wurde als deshalb, weil man ihr Hexerei hätte nachweisen können. Am erstaunlichsten allerdings war, dass mein Vater unbehelligt blieb. In all den Monaten des Hexenwahns wurde er, ein Mann von überdurchschnittlicher Körpergröße und Kraft, der - was damals absolut unüblich war - allein auf die Jagd und zum Fischen ging und zudem kaum ein Wort mit seinen Nachbarn wechselte, weder befragt noch als Zeuge vorgeladen, angeklagt, eingesperrt, ja, nicht einmal beschuldigt. Und das, obwohl die Gefängnisse nur so von Männern überquollen, die sich für ihre verdächtigten Frauen eingesetzt hatten.
Woran mochte es gelegen haben, dass mein Vater auf freiem Fuß blieb? Obwohl über sein Leben im alten England viel gemunkelt wurde, konnte ich Richard nur entlocken, dass Vater vor vierzig Jahren Soldat gewesen war. Ob er für den König oder für Cromwell gekämpft hatte, verriet mir mein Bruder leider nicht. Nach einer Weile vermutete ich, dass Richard sich deshalb ausschwieg, weil er es selbst nicht wusste. War es also Vaters Ruf als Soldat, der die Menschen auf Abstand hielt? Am meisten hätte ich sicherlich von Robert Russell erfahren können, denn schließlich waren die beiden ja im alten England Kameraden gewesen, doch es sollte sich keine Gelegenheit mehr zu einem Gespräch ergeben. Nachdem Robert uns von den Erhängungen berichtet hatte, legte Vater ihm die Hand auf die Schulter. »Mein Freund«, sagte er mit tiefer Trauer in der Stimme. »Mein alter Freund, du bringst dich und deine Familie in Gefahr, wenn du weiter Umgang mit uns pflegst. Du darfst erst wieder herkommen, nachdem diese Sache ausgestanden ist.« Anfangs wiedersprach Robert zwar heftig, sah aber rasch ein, dass es so das Klügste war. Als er ging, versprach er, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um uns zu helfen.
»Salem ist nicht das einzige Dorf, in dem Klatsch und Tratsch über Tote wieder ausgegraben werden können, um Schaden anzurichten«, meinte er zum Abschied, als er aufs Pferd stieg. Mit diesen seltsamen Worten ritt er davon, und ich fühlte mich so allein wie nie zuvor.
Nun hatte ich nur noch meine Schwester, meine Brüder und Vater. Für meinen Vater war ich stets eine Fremde gewesen, die er nur wahrnahm, wenn sie ihm Essen oder einen Becher Wasser brachte. Wie er so schweigend und zielstrebig seiner Arbeit auf der Farm nachging, wurde er für mich zu einer Selbstverständlichkeit und rückte gleichzeitig in so weite Ferne, dass ich ihn nach einer Weile ebenso wenig bemerkte wie ein Pferd oder einen Ochsen. Doch mit jedem Tag, den Mutter fortblieb, passte ich mich mehr an seinen Tagesablauf an. Ich stand auf, wenn er aufstand, schlief, wenn er schlief, und mühte mich nach Kräften ab, um ebenso schwere Lasten zu tragen und kräftig den Spaten zu schwingen wie meine Brüder. Währenddessen beobachtete ich Vater und seinen Umgang mit seinen Mitmenschen und stellte fest, dass sie sich nahezu ohne Ausnahme vor ihm fürchteten.
Am Tag nach Roberts letztem Besuch bei uns begleitete ich
Weitere Kostenlose Bücher