Die Tochter der Ketzerin
Kamin gesessen und sanft sein Gesicht gestreichelt hatte. Zum ersten Mal in meinem jungen Leben bekam ich eine Vorstellung von fraulichen Gefühlen, und in diesem Moment wusste ich, dass er sie liebte. Allerdings konnte ich von jenem Tag an nie wieder an die Liebe zwischen meinen Eltern denken, ohne einen bitteren Geschmack im Mund zu verspüren.
»Soll das heißen, dass wir sie verloren haben?«, fragte ich mit zitternder Stimme.
Er neigte den gewaltigen Schädel, als wollte er ihn an meine Schulter lehnen. »Ich sage nur, dass sie sich nicht selbst verloren hat«, antwortete er leise.
Plötzlich hörten wir den Hofhund aus Leibeskräften bellen. Vater sprang so rasch auf, dass er mich beinahe umwarf, ließ die Schaufel fallen und rannte zum Haus. Ich packte Hannah und stolperte auf zitternden Beinen hinter ihm her. Jetzt kommen sie uns sicher holen , dachte ich. Als ich das Feld hinter mir hatte, sah ich, dass ein Wagen auf der Straße vor unserem Haus stand. Ein Mann und zwei Frauen saßen darin. Mit ihrer abgewetzten Arbeitskleidung unterschieden sie sich nicht von den übrigen Bewohnern Andovers. Die Frauen hatten gestärkte Hauben auf dem Kopf, der Mann trug einen alten Filzhut. Während wir uns näherten, verharrten sie merkwürdig reglos auf ihren Plätzen und starrten uns nur schweigend an. Genauso gut hätten sie steinerne Statuen sein können. Mir stockte der Atem, denn ich glaubte, dass sie uns den Haftbefehl brachten. Im nächsten Moment stellte ich allerdings fest, dass ich nicht den Wachtmeister, sondern seinen Bruder Joseph Ballard vor mir hatte. Joseph war ein Nachbar und wohnte nur einen halben Kilometer nördlich von uns an der Boston Way Road. Seine Frau litt schon seit einigen Monaten an einer schweren Krankheit. Bevor Mutter im Frühjahr nach Salem verschleppt worden war, hatte sie ihr Kräuter gegen ihr Fieber gebracht. Allerdings verschlechterte sich der Zustand von Goodwife Ballard zusehends, sodass täglich mit ihrem Tod zu rechnen war.
Vater winkte den Besuchern im Wagen zu, aber ihr Schweigen ließ ihn argwöhnisch innehalten. Die Muskeln an seinem Unterarm waren angespannt. Weder begrüßten uns die drei, noch nickten oder lächelten sie. Sie sprachen kein Wort und fixierten uns nur mit Blicken, bis Hannah das Gesicht in meinem Haar vergrub, das mir wirr und zerzaust um den Kopf hing, weil ich keine Haube trug. Die Mädchen tuschelten miteinander. Dann raunte die eine, die dick und klobig war und eine Narbe an der Lippe hatte, Joseph etwas zu. Sie wies auf mich und Hannah, eine eigentlich unbedeutende Geste, die dafür sorgte, dass der Boden unter meinen Füßen zu schwanken begann. Als Vater sah, dass sie auf uns zeigten, marschierte er mit entschlossen vorgeschobenem Kinn auf den Wagen zu. Hastig ruckte Joseph an den Zügeln, sodass sich die Pferde in Bewegung setzten. Wir standen da und schauten den Besuchern nach, die sich, ohne sich nur einmal umzuschauen, nach Norden die Straße hinauf entfernten. Später erfuhr ich, dass der Bruder des Wachtmeisters eigens nach Salem gefahren war, um die Hexenschauerinnen Mercy Lewis und Betty Hubbard abzuholen, die mehr als ein Dutzend Hexen in ihrer eigenen Heimatstadt enttarnt hatten. Joseph befürchtete nämlich schon seit langem, seine Frau könne durch schwarze Magie erkrankt sein. Nach Mutters Verhaftung war er zu der Überzeugung gelangt, sie sei schuld am Leid in seiner Familie. Auch die beiden jungen Frauen sollten später gegen meine Mutter aussagen.
Am 15. Juli brachte Robert Russell uns die Nachricht, dass Sarah Good, Elizabeth Howe, Susannah Martin, Rebecca Nurse und Sarah Wilde, Frauen aus vier verschiedenen Städten, in vier Tagen in Salem auf dem Galgenhügel durch den Strang hingerichtet werden sollten. Eigentlich hatte er mit Vater allein sprechen wollen, doch der rief uns alle ins Haus und forderte uns auf, uns an den Tisch zu setzen. Wir weinten und klagten nicht und klammerten uns auch nicht trostsuchend aneinander, da es keinen Trost mehr gab. Ich dachte an Mutter in ihrer Zelle und sprach ein stilles Gebet, in dem ich darum bat, dass wir bald verhaftet werden würden, damit ich sie vor der Verurteilung noch einmal sehen konnte. Da fiel mir Dorcas Good, Sarah Goods kleine Tochter, ein, die mit ihrer Mutter in Ketten gelegt worden war, und ich fragte Robert, ob man sie nach dem Tod ihrer Mutter entlassen habe. Nach kurzem Zögern antwortete er, sie säße nun mutterlos in ihrer dunklen Zelle. Sie sollte erst in vier
Weitere Kostenlose Bücher