Die Tochter der Ketzerin
die Vogelscheuche nach Osten aus und legte meine Hände um die Stange, damit ich sie gerade hielt, während er sie fest in den Boden rammte. »Aber hier sagen die Engländer Vogelscheuche dazu, obwohl sie bessere Methoden kennen, die Vögel zu verscheuchen.« Das Wort Engländer hatte bei ihm einen abfälligen Klang, und er verzog finster die Lippen.
»Und wie sieht die aus, Vater?«, fragte ich nach, weil ich wollte, dass er weiterredete.
»Sie stellen rings um das Feld Stöcke mit rasiermesserscharfen Spitzen auf. Und auf jeden dieser Stöcke wird eine Amsel durch die Brust aufgespießt. Manche Vögel leben noch und flattern, und das gefällt den Krähen gar nicht. So lange auch nur ein Teil einer Amsel auf den Stöcken steckt, bleibt der Mais unversehrt. Das ist die englische Art.«
Als Vater sich hinkniete, um die Erde rings um die Stange festzuklopfen, ließ ich den Blick über unser kleines Feld schweifen und stellte mir angespitzte Stöcke, bestückt mit zerfledderten, zappelnden Vögeln vor. Da hörte ich die Stimme meines Vaters dicht an meinem Ohr. »Die englischen Gerichte verfahren genauso. Um das Böse in die Schranken zu weisen, opfern sie Unschuldige und bezeichnen das als Gerechtigkeit. Aber es hat mit Gerechtigkeit ebenso wenig zu tun, wie diese Vogelscheuche ein Mensch ist.« Als ich aufblickte, kniete er noch immer, sodass seine Augen ganz dicht an meinen waren, und bei seinem eindringlichen Blick schnürte es mir die Kehle zu. »Ich würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um deine Mutter zu retten«, rief er mit plötzlicher Leidenschaft aus. »Ich würde die Mauern ihres Gefängnisses niederreißen und sie in der Wildnis von Maine verstecken. Doch sie will es nicht. Sie wird sich ihren Richtern entgegenwerfen, in der festen Überzeugung, dass sich ihre Unschuld gegen all die Lügen und Verdrehungen durchsetzen kann.«
Er wandte sich ab, schaute zum Horizont und meinte leise, als spräche er mit dem Wind: »Ihre Stärke beschämt mich.« Forschend musterte ich sein wie in Granit gehauenes Profil. Ich sah den Schmutz in seinen Hautporen und die eingegrabenen Fältchen rings um seine Augen und Lippen und erkannte die Spuren eines jahrelangen Kampfes, von dem ich nichts wusste.
»Können wir denn gar nichts tun?«, fragte ich und fasste ihn am Arm.
Er erwiderte meinen Blick. »Es liegt in ihren Händen und in denen der Richter«, erwiderte er.
So etwas hatte ich nicht aus seinem Mund hören wollen, denn ich wünschte mir so sehr, er möge einen finsteren und abenteuerlichen Plan schmieden, um sie zu befreien. »Was ist mit dem Onkel? Er war gegen uns, und nun ist er tot«, hätte ich am liebsten herausgeschrien. »Wenn du sie liebst, lass die Hunde los, Vater. Brenn das Gefängnis nieder. Nimm einen Knüppel und schlag den Sheriff damit auf den Kopf. Schmier die Schlösser, reiß im Schutze der Dunkelheit die Türen weit auf, hol sie aus dem Kerker und bring sie weg.« Im nächsten Moment fiel mir ein, dass damit vielleicht auch der Rest der Familie gerettet sein würde. Aber ich schwieg und sah ihn nur an. Meine Augen glühten in ihren Höhlen, mein Griff um seinen Arm wurde fester, und dann erinnerte ich mich wieder. Mutter war es gewesen, die mir an jenem Tag vor dem Versammlungshaus zu Hilfe geeilt war, als Phoebe mich als Hexe beschimpft hatte. Während war Vater reglos im Wagen sitzen geblieben war.
»Ich habe in den letzten Wochen stundenlang mit ihr gesprochen«, sagte er. »Doch eher würden sich die Mauern ihrer Zelle bewegen, als dass sie es tut.« Er packte mich an den Schultern und zog mich an sich. »Ich würde ihr Schande machen, wenn ich sie anflehen würde, zu lügen oder falsches Zeugnis über andere abzulegen. Verstehst du, Sarah? Wir alle - jeder von uns - müssen ganz allein und nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Kein Magistrat, kein Richter und kein Geistlicher kann uns die Wahrheit streitig machen, denn sie sind auch nur Menschen. ›Vater, wenn du sie liebst, rette sie‹, würdest du mir sicher gerne sagen. Doch es ist die Liebe, die mich daran hindert, sie von der Wahrheit abzubringen. Selbst wenn das bedeutet, dass sie dafür sterben muss.«
Der Blick, der meinen traf, war so hilflos und verzweifelt wie der eines keltischen Königs, der gerade das Totenboot seiner Königin in den Fluss hinausgeschickt hat, ihm aber dann in seiner Trauer nachschwimmt und dabei selbst ertrinkt. Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter vor so vielen Wochen mit ihm am
Weitere Kostenlose Bücher