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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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rasten die Tage nach Mutters Verhaftung derart dahin, dass ich manchmal glaubte, den Fahrtwind von Sonne und Mond zu spüren, während diese über den Himmel sausten. Jeden Tag ließ ich die Welt durch zwei Augen- und Ohrenpaare auf mich wirken. Das eine war auf meine Arbeit gerichtet, mit dem anderen hielt ich Ausschau und horchte auf den herannahenden Wagen des Wachtmeisters.
    Am 28. Juni begann am Schwurgericht von Salem die zweite Sitzungsperiode. Rebecca Nurse wurde von den Geschworenen für nicht schuldig befunden, doch die Anklägerinnen und Richter erhoben ein solches Geschrei, dass man die Männer aufforderte, sich erneut zu beraten. Diesmal sprachen sie die Angeklagte in allen Punkten schuldig. In den fünf Tagen der zweiten Sitzungsperiode wurden zwölf Frauen und Männer, unter ihnen meine Mutter, vor Gericht gestellt. Am 1. Juli ritt mein Vater nach Salem, um der Verhandlung beizuwohnen. Noch vor Morgengrauen weckte er mich, damit ich ihm ein Frühstück machte und etwas Essbares zusammenpackte. »Wenn ich zu einem Hundekampf gehe, will ich beim ersten Knurren dabei sein«, lauteten seine einzigen Worte beim Aufbruch. Meine Mutter wurde beschuldigt, zwei jungen Frauen, denen sie vor ihrer Ankunft in Salem noch nie begegnet war, als Geist erschienen zu sein. Offenbar hatte der Tod des Onkels die Vorwürfe nicht zum Verstummen gebracht und würde nichts an dem vernichtenden Urteil ändern. Als Vater abends zu uns zurückkehrte, teilte er uns mit, Mutter sei wieder ins Gefängnis gebracht worden. Die Urteilsverkündung werde frühestens im August erfolgen. Jedoch verschwieg er uns, dass fünf andere Frauen, unter ihnen Rebecca Nurse, verurteilt worden waren und noch in diesem Monat gehängt werden sollten.
    Der Juli verging in rasender Geschwindigkeit und wurde so unerträglich heiß, wie Mutter es vorhergesagt hatte. Jeden Tag standen wir auf, zogen dampfende schmutzige Kleidung an und verspeisten unser nicht aufgegangenes Brot, das wir mit Wasser anfeuchten mussten, damit es uns nicht im Halse stecken blieb. Wir wischten uns den Schweiß weg, aßen mittags unsere Suppe, bearbeiteten mit unseren altersschwachen Werkzeugen Pfosten und Baumstümpfe, zerkleinerten Fleisch zum Abendessen und legten uns abends ins Bett, um auf durchgeschwitzten Laken gegen unsere Träume zu kämpfen. Ich heftete mich wie ein Schatten an die Fersen meines Vaters. Meinetwegen hätte das Haus abbrennen können, so wenig kümmerte ich mich darum, nur damit ich in der Scheune und auf den Feldern an seiner Seite sein konnte, wenn er nicht gerade nach Salem musste. Vom ständigen Schleppen schwerer Lasten war mein Kleid unter beiden Armen zerrissen, und meine nackten Knie waren zerkratzt und verkrustet. Doch ich verschwendete weder einen Gedanken an Strümpfe noch ans Nähen, weil ich mich nur in der Nähe meines hünenhaften Vaters sicher und geborgen fühlte. Hannah war inzwischen so schmutzig, dass ich mich eigentlich hätte schämen müssen, wenn ich die Kraft dazu gehabt hätte, denn sie zog Fliegen hinter sich her wie ein Wiesel. Allerdings schien sie das nicht zu stören, und solange ich in Sichtweite war, spielte sie zufrieden auf der Erde oder im Stroh der Scheune. Als Spielzeug diente ihr alles, was sie in die Hände bekam, sei es nun ein Stöckchen, eine Flasche oder ein Löffel, denn wir hatten weder Zeit noch Lust, ihr einfache Spielsachen zu basteln.
    Am 14. des Monats waren Vater und ich damit beschäftigt, die umgefallene Vogelscheuche im Maisfeld wieder aufzustellen. Inzwischen waren die Stängel höher als ich, doch Vaters Kopf schwebte so weit über den Blättern, dass ich selbst aus hundert Metern Entfernung wieder zu ihm zurückgefunden hätte. Ich hielt die Backschaufel fest, während er Birkenschösslinge um den dicken Ast wickelte, aus dem die Arme der Vogelscheuche werden sollten. Wir arbeiteten schweigend. Nur Hannah, die Maisblätter zu einem Kranz für ihren Kopf flocht, schwatzte fröhlich vor sich hin. Hier, mitten im Mais, fühlte ich mich geborgen und so sicher, dass es mir die Zunge lockerte. »Vater, hattet ihr auch so eine Vogelscheuche, als du ein Junge warst?«
    »Ja«, erwiderte er, und ich glaubte, dass er es dabei belassen würde, doch er fuhr fort: »Aber in Wales nannten wir so etwas einen boogan .«
    Mühsam versuchte ich, das walisische Wort auszusprechen. Ich wusste, dass Vater mit einer anderen Sprache aufgewachsen war, die er in unserer Gegenwart jedoch nur selten benutzte. Er richtete

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