Die Tochter der Ketzerin
die römischen Soldaten, die am anderen Ufer eines walisischen Fluss standen.
»Wer ist der Nächste?«, rief Vater aus. »Sind Sie es, Granger, der an der New Meadow wohnt?« Sein Arm beschrieb einen kleinen Bogen, sodass die Sichel aufblitzte. »Oder sind Sie es, Hagget, der sein Haus am Blanchard’s Pond hat? Oder vielleicht auch Sie, Farnum, mit Ihrer Farm am Boston Hill.« So rief er jeden der etwa acht Männer auf, nannte Namen und Wohnort und ließ dabei die Sichel durch die Luft sausen. Die offensichtliche Botschaft lautete, dass er sie kannte und wusste, wo sie lebten. Dabei klang er nicht etwa zornig, sondern eher wie ein Steuereintreiber, der den Nächsten in der Reihe zu sich bittet, damit dieser seine Steuerschuld begleicht. Allerdings schwang noch etwas anderes in seinen Worten mit, das sich auch in seinem Gesicht und seiner sprungbereiten Körperhaltung widerspiegelte. Die Luft knisterte vor Anspannung, sodass ich ein Prickeln auf der Kopfhaut spürte. Daran, wie die Männer mit eingezogenen Köpfen zu ihren Wagen oder in die Schmiede hasteten, erkannte ich, dass die Saat der Angst in ihren Herzen aufgegangen war. Vater legte die Sichel so liebevoll wie ein Kleinkind ins Stroh, stieg auf den Wagen und griff nach den Zügeln, um uns nach Hause zu bringen. Unterwegs sah ich ihn immer wieder aus dem Augenwinkel an, doch er sprach kein Wort mit mir, so als sei es etwas ganz Alltägliches, eine Horde aufgebrachter Farmer ohne einen einzigen Fausthieb oder ein scharfes Wort auseinanderzuscheuchen. Der Zwischenfall vor der Schmiede ließ mir meinen Vater in einem völlig neuen Licht erscheinen, denn er hatte sich nicht nur in der Hackordnung der Männer behauptet, sondern mir eindeutig klargemacht, dass ich mich auf seinen Schutz verlassen konnte. Er schritt nun einmal nicht heftig und lautstark ein wie meine Mutter, sondern bevorzugte eine ruhige, zurückhaltende Vorgehensweise. Doch es war unser letzter Besuch im Versammlungshaus von Andover, der mir - zumindest im Ansatz - zeigte, welche Todesangst die meisten Menschen vor meinem Vater hatten. Es war eine Furcht, die über die bloße Scheu vor körperlicher Gewalt hinausging.
An diesem Abend kam Reverend Dane zu uns, um uns Essen und einige Kleidungsstücke zu bringen. Allerdings konnte er uns nicht die geringsten Hoffnungen machen. Er teilte uns mit, er habe Mutter in ihrer Gefängniszelle aufgesucht. Sie habe ihren Frieden mit Gott geschlossen und werde sich mit jedem Urteil abfinden, das der Magistrat über sie fällen würde. Außerdem hatte er aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass wir, die Kinder, bald dem Magistrat in Salem vorgeführt werden sollten. Deshalb flehte er uns an, am nächsten Tag ins Versammlungshaus zu kommen, weil man es zu unserem Vorteil werten würde, wenn wir unseren Glauben an Gott öffentlich bekundeten. Vater hörte ihn respektvoll an, doch als der alte Mann geendet hatte, stand er auf und holte Mutters Bibel aus der geschnitzten Kommode neben dem Tisch. Dann schlug er das Matthäus-Evangelium auf, zeigte mit dem Finger auf einen Vers, ging hinaus und kehrte erst zurück, nachdem der Reverend sich verabschiedet hatte. Als ich später das Matthäus-Evangelium durchblätterte, entdeckte ich den dunklen Abdruck seines Zeigefingers. Der Vers lautete: »Wenn aber du betest, dann geh in deine Kammer, schließ die Türe zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen.« Dennoch fuhr Vater mit uns am 17. Juli, jenem letzten Sonntag unserer Freiheit, zum Versammlungshaus, denn er wollte jede Gelegenheit nutzen, die Richter zu unseren Gunsten umzustimmen.
Wenn wir nackt mitten in der Stadt herumspaziert wären, wir hätten wohl keinen größeren Tumult auslösen können. Beim Betreten des Versammlungshauses schlug uns unverhohlener Hass entgegen. Während Vater und Richard kaum Schwierigkeiten hatten, einen Platz bei den Männern zu finden, zeigten die Frauen keine Gnade, sodass ich, die zappelnde Hannah auf dem Arm, im Mittelgang stehen bleiben musste. Phoebe Chandler reckte das Kinn und und sah mich herablassend an. Doch als sie Richards finstere Miene bemerkte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit rasch wieder der Kanzel zu. Später, bei ihrer Zeugenaussage vor Gericht in Salem, würde sie behaupten, Richards Blick habe sie während des gesamten Gottesdienstes ertauben lassen. Ein Jammer, dass sie davon nicht auch noch stumm geworden war! Als Vater zu mir hinüberschaute, hob ich den Kopf und straffte den Rücken, denn ich wollte, dass er
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