Die Tochter der Konkubine
Kräuterschuppen. Zuerst hielt ich ihn für einen verletzten Vogel, einen Pelikan, der sich im Schlamm verfangen hatte, aber sein Geist besiegte den Tod, und er erholte sich schnell.« Er zerteilte den Katzenfisch in Stücke und vermischte ihn in Holzschüsseln mit Reis und dunkelgrünem Spinat. »Ich habe viel dafür getan, sein Bein zu begradigen, aber letztendlich
war es seine Entschlossenheit, die es vollbrachte. Ich weiß nicht einmal genau, wie alt er ist, aber ich glaube, bei seiner Ankunft hier war er sieben oder acht. Ich habe ihn fünf Jahre lang ausgebildet. Er hat seinem verdrehten Fuß beigebracht, ihm zu gehorchen.«
Er stellte die dampfenden Schüsseln auf den Tisch. »Seine Seele ist erfüllt von Mut und großer Entschlossenheit … von Demut und Mitgefühl aber nicht. Es dauerte nicht lange, und ich entdeckte die Saat der Selbstsucht und der Ungeduld in ihm. Der Drang zur Gewalt wächst in ihm wie eine Krankheit. Aus seiner Entschlossenheit ist blinder Ehrgeiz geworden. Und mit diesen Wesenszügen könnte er niemals dem Weg des Tao folgen. Deswegen habe ich ihn Ah-Keung genannt - den Energischen.«
Eine Weile aßen sie schweigend, nur die Schreie der Vögel und die weit entfernten Rufe der Schilfschneider an den Ufern waren zu hören. »Du siehst also, der Schuldige bin ich. Ich habe ihm beigebracht, sich selbst zu verteidigen, damit er seinen eigenen Weg findet. Erst fiel mir gar nicht auf, dass ihm das nicht reichen würde oder dass er mir allmählich vertraute wie ein Sohn einem Vater … oder dass er nirgendwo anders hinwollte, nur hier bleiben.«
Der alte To zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir den falschen Schüler ausgesucht. Vielleicht nimmt er mit der Zeit Vernunft an - und lernt, dass es für manche schwieriger ist, ein Mann zu werden, als für andere.«
19. KAPITEL
Unter einem Birnbaum
Sobald Siu-Sing das Wunder ihrer Füße entdeckt hatte, begann die Zeit der Entdeckungen. Jeder Anblick, jedes Geräusch und jeder Geruch schien ein Teil ihrer selbst zu werden - der Himmel, der in die Weite des Sees überging, die Boote auf dem Wasser, der Geruch der trocknenden Kräuter oder des Rauchs eines Holzfeuers. Vögel und kleine Tiere wurden ihre Freunde, der Sumpf ein wogender Schilfdschungel, die Bambushaine ein unendliches Muster aus verstreuten Sonnenstrahlen. In weiter Ferne berührten in Dunst getauchte Berge den Himmel. Die Welt steckte voller Wunder, und jeder Tag hielt neue Abenteuer bereit.
Ein Morgen am See begann wie der andere - das Gras auf den Böschungen wurde von einer leichten Brise hin und her geweht, die Zikaden lärmten geschäftig in den Obstbäumen. Siu-Sing hatte ihr Gesicht in der Wasserschüssel gewaschen und an dem Tisch unter dem Birnbaum gefrühstückt. Der alte To war schon vor der Dämmerung aufgebrochen und auf die bewaldeten Hänge über der Hütte gestiegen, Fisch säuberte den Reisbreitopf und schrubbte die Fischpfanne.
Siu-Sings Füße führten sie zu dem Kräuterschuppen. Man hatte ihr gesagt, sie solle sich davon fernhalten, aber sie wollte zu gern wissen, was für Geheimnisse sich darin verbargen. Obwohl die Bambusmatten in den Fenstern hochgerollt waren, war sie zu klein, um ganz hineinschauen zu können. Sie konnte viele seltsame und schattenhafte Dinge sehen, die von Bambusrohrgestellen herabhingen.
Gewöhnlich war die Tür des Kräuterschuppens verschlossen, und sie kam nicht an den schweren Holzriegel heran. Heute aber
stand sie gerade so weit offen, dass sie sich hindurchzwängen konnte. Drinnen war es dunkel und kühl, die Luft war erfüllt von erdigen Gerüchen, und man konnte das Getrappel der Schwalben auf dem Dach hören. Es war ein sehr geheimnisvoller Ort. Stränge getrockneter Pflanzen und Blumen hingen in Reihen von der Decke herab. Töpfe und Urnen, gefüllt mit Baumrinde, Samen, Wurzeln und Pilzen, standen an den Wänden aufgereiht.
Als er Siu-Sing hereinkommen sah, erhob sich Ah-Keung gemächlich aus seiner schattigen Ecke. Sie sah ihn nicht, bis seine Stimme den Zauber ihrer Entdeckungsreise brach.
»Guten Morgen, kleine Schwester, willkommen in meinem Haus.« Als sie überrascht zusammenzuckte und zur Tür zurückwich, lachte er leise auf. Er trat ins Licht, einen Haufen Samenhülsen in der Hand, und forderte Siu-Sing auf, ihren Duft einzuatmen. Als sie sich näher zu ihm beugte, strich er ihr übers Haar und kniff sie in die Wange.
Bei seiner Berührung fuhr sie zurück.
»Jetzt lauf doch nicht gleich wieder weg! Wolltest
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