Die Tochter der Konkubine
der Lantau-Insel, nahe dem Goldenen Hügel. Nenne ihm deinen Tempelnamen. Wenn die Zeit kommt, musst du seine Hilfe suchen, und er wird sie dir großzügig gewähren.«
»Woher weiß ich, dass es an der Zeit ist, zu ihm zu gehen?«
»Du wirst es wissen, Roter Lotus. Du wirst es wissen. Früher oder später kommt der Tiger immer zum Kranich.«
Eine kühle Brise wehte über die Hänge, als Siu-Sing mit einem Armvoll Pfirsichblüten zum Ort des klaren Wassers stieg. Sie blieb einen Augenblick stehen und blickte zum See zurück. Die Luft war frisch und klar. Die Berge wirkten viel näher als sonst, ihre Gipfel waren verschneit. Holzrauch erhob sich aus den Feuerstellen der Schilfschneider, der von plötzlichen Windböen mal hierhin und mal dorthin geweht wurde.
Heute wurde sie dreizehn Jahre alt, und ihre Ausbildung war abgeschlossen. Es war so weit. In zwei Tagen würden sie den See verlassen und sich zum Goldenen Hügel in Hongkong begeben. Meister To hatte ihr ein Bündel Räucherstäbchen und eine rote Kerze gegeben, die sie an Paw-Paws Grab bringen sollte. »Für die Räucherstäbchen habe ich einen seltenen Pilz eingetauscht und für die Kerze eine Fußballenentzündung geheilt. Du darfst allein gehen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen … Ich habe mit meiner Cousine schon gesprochen. Sie ist glücklich in der Gesellschaft ihrer Sippe und wird auf dich achtgeben, wie sie es auch bei deiner Mutter getan hat.«
Als sie vor Fischs Grab niederkniete, die Blüten wie den Fächer eines Pfaus anordnete und Räucherwerk anzündete, das sich in Fäden
parfümierten Rauchs erhob, vernahm Siu-Sing ein Geräusch, das sie schon zuvor gehört hatte - ein warnendes kehliges Zischen und das trockene Gleiten von Schuppen über lose Steine. Wohl wissend, dass sie keine hastigen Bewegungen machen durfte, blickte sie vorsichtig auf.
Die Waldkobra hatte sich im Schlaf zusammengerollt, durch ihre Stein - und Erdfarben und - muster war sie auf dem kleinen Garten aus Kieselsteinen vor dem kleinen Grab unbemerkt geblieben. Jetzt hatte sie die Haube weit ausgebreitet und hielt den flachen, glänzenden Kopf wie eine Klinge. Unvermittelt - die dazwischenliegenden Jahre flogen davon - sah Siu-Sing wieder in die Augen und die perfekt ausgebildeten Abschnitte ihres Schlundes und Halses, der so glatt wie Elfenbein war. War das die yan-jing-shi , vor der Fisch sie gerettet hatte, die inzwischen doppelt so groß geworden war? Konnte sie zurückgekehrt sein, um im Grab einer Person zu leben, der sie nach dem Leben getrachtet hatte?
Sie hatte die Schilfschneider dergleichen erzählen gehört. Es war bekannt, dass Yan-jing-shi in Gräbern, leer stehenden Häusern und verlassenen Tempeln ideale Jagdgründe vorfand, ideal auch, um ihre Jungen großzuziehen. Sie hatte die große Schlange im Schlaf zusammengerollt auf warmen Felsen liegen sehen, wie sie sich durchs hohe Gras wand und im Schnee verräterische Spuren hinterließ, und sie hatte ihre tote und abgestreifte Haut über die Gräser wehen sehen.
Plötzlich hörte sie über ihrem Kopf - so nahe, dass ihr Haar aufflog - ein zischendes Geräusch. Dann wurde über ihr ein Seitentritt ausgeführt, und ein Fuß traf den Kopf der Schlange wie eine Messerklinge mit solch einer Wucht, dass diese fiel. Fast zeitgleich wurde Siu-Sing von Ah-Keung zur Seite geworfen. Er hatte sich sein Hemd vom Leib gerissen, es sich um eine Hand geschlungen und kauerte sich auf Augenhöhe mit der Schlange.
Er hielt sich wie die Messerstecher, die Sing unter den Hokklo-Fischern gesehen hatte und die sich mit selbst hergestelltem Wein betrunken hatten. Yan-jing-shi hatte sich wieder aufgerichtet,
sie schwang mit ausgebreiteter Haube nach hinten, und ihre gespaltene Zunge vibrierte wie das Rohrblatt in einer Bambusflöte. »Ah, yan-jing-shi «, höhnte er und äffte das Wiegen der Kobra nach. »Lass uns tanzen. Mal sehen, wer schneller ist, du oder ich.« In Alarmbereitschaft versetzt, schlug die Kobra wieder und wieder zu, das Zischen zu einem Knurren verdichtet. Jedes Mal wich Ah-Keung dem breiten gelben Maul mühelos aus, streckte der Schlange die Zunge heraus und breitete die Arme aus.
»Ich gebe dir vier Chancen, Yan-jing-shi . Diese Hand? … Oder diese hier? Dieser Fuß? … Oder dieser? Was soll es sein?« Er umkreiste die Schlange, zwang sie, sich mit ihm zu bewegen. Ihre Blicke waren ineinander verschmolzen. »Siehst du, wie ich meinen würdigen Gegner zermürbe, wie sehr er mich hasst, wie unvorsichtig
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