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Die Tochter der Konkubine

Die Tochter der Konkubine

Titel: Die Tochter der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pai Kit Fai
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auch verschwunden!«
    »Nein!«, protestierte sie. »Nein, er lebt! Sein Puls, sein Herz, sie schlagen noch! Er ist immer noch bei uns!«, flüsterte sie verzweifelt und erkannte dabei ihre eigene Stimme nicht wieder.
    »Das liegt an dem Ginseng, Kleiner Stern … der Wurzel des Himmels.« Der Energische sprach leise, begierig, das Geheimnis dieser schrecklichen Sache offenzulegen. »Er hat jeden Tag in seinem Leben Ginsengtee getrunken … und da nur den besten, den
er finden konnte. Das hat ihm zu einer sehr langen Lebensdauer verholfen. Ich glaube, er ist mehr als neunzig, vielleicht mehr als hundert Jahre alt geworden, und doch wirkte er immer jung. Es heißt, in der Alraunwurzel stecke eine große Zauberkraft, die selbst dann noch die Lebenskraft aufrechterhalten könne, wenn die Seele entschwunden ist … manchmal eine ganze Weile lang, bis über eine Stunde sogar.«
    »Atmet er? Kannst du seinen Atem hören oder fühlen?«
    Siu-Sing hielt den Handrücken unter die Nase des Meisters und ließ ihn dort zahllose Augenblicke. Doch sie spürte nichts, nur die Schluchzer, die ihre Seele erschütterten. Ah-Keung richtete sich auf und wartete, bis der erste Schock vorüber war. »Die Schilfschneider haben vor jemandem wie unserem si-fu keinen Respekt. Die betrachten ihn nur als Hexenmeister und Alchemisten. Sie haben sich vor ihm gefürchtet, und doch schicken sie ihre Rotzgören her, um aus dem Schuppen Kräuter zu klauen.«
    Ah-Keung drückte dem si-fu sanft die Augen zu und bedeckte sein Gesicht mit einem Bärenfell. »Wir werden nie wissen, ob sie oder irgendein vobeiziehender Fallensteller die Hand mit im Spiel hatten … oder ob seine Zeit gekommen war, sich zu seinen Ahnen zu gesellen.« Traurig zuckte er die Achseln. »Vielleicht hat er diesen Ort, den er so liebte, einfach nicht verlassen sollen.«

24. KAPITEL
    Die Welt jenseits der Berge
    In der Kluft eines Tankajungen, das Haar unter einem glockenförmigen Strohhut verborgen, fand Siu-Sing sich auf dem vollgepackten Deck einer Dschunke wieder, die vom Tung-Ting-See zur Yangtze-Mündung und weiter zum Hafen von Macao fuhr. Sie konnte noch immer nicht fassen, wie schnell sich alles hatte ändern können.
    Nach dem Tod von Meister To hatte Ah-Keung unaufhörlich neben ihr geschuftet, um neben der Ruhestätte seiner Cousine am Platz des klaren Wassers eine Grabstätte zu schaffen, die solch eines bedeutenden Mannes würdig war. Er hatte geweint und war vor dem Grab auf die Knie gefallen, hatte in Gebeten laut und lang um Vergebung gefleht. Siu-Sing konnte solche Tränen nicht finden, sie spürte nur eine seltsame und schmerzliche Verhärtung ihrer Sinne. Ein Teil ihres Herzens schloss sich um die Erinnerungen an ihn, versiegelte alles, was sie von ihm wusste, und alles, was sie von ihm gelernt hatte, für immer und ewig. Als sie den Energischen beobachtete, sah sie nicht den Krieger, sondern den verkrüppelten Jungen, der auf der Suche nach seiner Rettung den See überquert hatte. Einige Augenblicke lang hatten sie ihren Schmerz miteinander geteilt.
    Siu-Sing wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte davon geträumt, dass sie und ihr si-fu gemeinsam den Mann auf der verblichenen Fotografie suchen würden, dass sie zusammen dessen Haus betreten und dort glücklich und zufrieden leben würden. Allein in der Hütte am See zu bleiben hätte bedeutet, ihre Suche zu beenden, ehe sie begonnen hatte. Und doch war es unvorstellbar für sie, sich ohne ihren Meister an der Seite einer ihr unbekannten Welt zu stellen.
    Die Nacht war schlaflos verstrichen. Zum ersten Mal besuchte
Siu-Sing den Felsen großer Stärke allein. Unter einem abnehmenden Mond machte sie sich zusammen mit ihrem si-fu auf den letzten großen Flug seiner Reise, um ihn mit seiner Cousine vereinigt zu sehen. Und erhob sich dann zum Sonnengruß. Eine Stunde lang führte sie den rituellen Tanz des Kranichs und des Tigers mit seinem fröhlichen Geist an ihrer Seite auf, während Paw-Paw am Ort des klaren Wassers döste. Sie führte jeden Schritt, Sprung und Tritt, jeden Schwung und Schlag, jedes Abblocken mit der perfekten Genauigkeit und Kraft aus, die nur ein Jahrzehnt der Schulung unter dem größten aller Meister möglich machen konnten. Die Erinnerung daran würde sie auf die andere Seite der Berge mitnehmen.
    Als sie mit dem Sonnengruß schloss, hörte sie jemanden langsam Beifall klatschen und wirbelte herum. Ah-Keung trat aus dem Schutz eines Mimosenbusches hervor. »Verzeih, wenn ich dich

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