Die Tochter der Konkubine
Siu-Sing die Schnallen lockerte, das perlenbesetzte Tragetuch vom Rücken nahm und sie behutsam neben die er-hu stellte. »Ich sehe, du spielst Musik. Das wird dir von Nutzen sein. Ah-Jin betrachtet Musik als einen bedeutenden Teil des Vergnügens.«
Aus einer Schublade holte sie ein zusammengefaltetes Nachthemd und ein Handtuch heraus und warf beides auf das Bett, das dem Fenster am nächsten war. »Die Sachen hier in der Schublade sind für dich, bis du richtig aufgenommen worden bist. Du kannst in diesem Bett schlafen. Ich habe mir die Bäume schon zu oft angeschaut, die Blüten schon zu oft gerochen und dem Taubengeturtel schon zu oft gelauscht, um sie noch zu bemerken.«
Sie öffnete die Tür zu einem Raum nebenan, wo eine große runde Badewanne auf Klauenfüßen stand, und zeigte Siu-Sing, wie sie die glänzenden Messinghähne aufdrehte, um sauberes, frisches
Wasser einzulassen, das handwarm erhitzt worden war, und wie man wohlriechende Öle in die Dampfwolken sprengte. »Die erste Regel lautet, allzeit sauber zu sein. Ich lasse dich jetzt baden, etwas essen und dann ausruhen. In aller Ruhe.«
An der Tür hielt sie kurz inne. »Ah-Jin ist die Vernunft persönlich, es sei denn, man macht sie wütend - dann ist sie der Zorn persönlich.« Ein Lächeln stahl sich in die Augen der Pfeifenmacherin. »Aber du hast nichts zu befürchten. Ich werde dich sanft und gerecht leiten. Du wirst nicht lange brauchen, um deinen Wert unter Beweis zu stellen. Wenn du gehorsam bist und ihr Vertrauen und Verständnis gewonnen hast, wird sie dich freundlich empfangen, und deine Einführung beginnt. Wenn nicht« - sie zuckte unmerklich die Achseln -, »dann wäre das schade. Unterdessen verlasse dieses Zimmer nicht ohne mich.«
Das Lächeln in ihren Augen schien sich zu vertiefen. »Schlaf gut. Denk nur an schöne Sachen. Von der Goldenen erwählt zu werden ist eine große Ehre.«
Die Tür wurde leise geschlossen, und Siu-Sing aß hungrig von einer Schüssel mit schmackhaften Nudeln und gewürzten, zarten Hühnchenstücken, die in Bambus-Dampfkochtöpfen warm gehalten wurden. Sie trank viel von dem Tee aus der Kanne, der sie laut Rubin beruhigen und ihr beim Einschlafen helfen würde. Benommen durch die plötzliche Schicksalswende, gab sie sich den Wundern ihrer ersten Badewanne hin, in der sich Berge von glänzendem Schaum türmten.
Sie schlief tief und fest bis spät in den nächsten Morgen hinein. Bis zum Nachmittag brannte Siu-Sing darauf, ihren Aufenthaltsort zu erforschen und zu erfahren, was von ihr erwartet wurde.
Rubin brachte ein zusammengefaltetes Gewand aus fliederfarbener Seide, dazu auf einem Lacktablett zwei Kristallfläschchen und zwei winzige, fingerhutgroße Tassen neben einem Bambusschneebesen. Mit geübtem Schwung hielt sie das erste Fläschchen hoch und füllte jede Tasse genau zur Hälfte mit einer goldenen Flüssigkeit.
Aus dem zweiten Fläschchen fügte sie tropfenweise etwas hinzu und vermischte das Ganze dann sehr sorgfältig.
»Das hier ist ein ausgesprochen seltenes Tonikum«, sagte sie, »das man einst für Kaiser gebraut hat … Wir nennen es ›Buddha springt über den Zaun‹. Es wird aus den Knospen des wilden Lohan-Teebusches gebraut, der nur in den Bergen der Mongolei zu finden ist, mit Persimonennektar gesüßt und mit einer einzigen Träne der Mohnblume gemischt. Ein Trank, der nur mama-san bekannt ist. Er setzt die Sinne frei.«
Vorsichtig nahm sie eine der Tassen zwischen die Fingerspitzen beider Hände und reichte sie Siu-Sing, als wäre sie ein Tröpfchen reinen Goldes. »Es sieht so aus, als würdest du bald mit Ah-Jin sprechen. Ich sehe bereits so viele Eigenschaften in dir, über die eine Silberschwester verfügen muss, dass mein Urteil zu deinen Gunsten ausfallen wird. Aber in unseren Herzen sind Dinge eingeschlossen, die befreit werden sollten. Das hier wird dich darauf vorbereiten.«
Rubin leerte ihre Tasse mit einem einzigen Schluck und beobachtete genau, wie Siu-Sing es ihr gleichtat. Der Likör schmeckte süß, ölte ihre Kehle, rann angenehm warm hinunter, bis er in ihrem Bauch erblühte und ihre Wangen erröten ließ.
Die Pfeifenmacherin beobachtete sie noch einige Sekunden genau. Dann stellte sie befriedigt das Tablett beiseite und reichte Siu-Sing das Gewand. »Du bist gemischtrassig, deshalb ist das Kleid aus chinesischer Seide und hat einen ausländischen Schnitt. Es passt zu deiner Augenfarbe und hat nur ein Ziel … dass du dich so schön fühlst, wie du
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