Die Tochter der Konkubine
wie sie nahebei auf Schilfgras eindrosch, sehen konnte sie sie aber nicht. Sing rief nach ihr, forderte sie auf, sich auf den Heimweg zu machen. Ehe sie das Grasbündel schultern konnte, kam der erste Regenguss, fette Tropfen schlugen auf ihren Hutrand auf und klatschten schmerzhaft auf ihre Schultern.
Sie hatte nicht mehr als ein Dutzend Schritte gemacht, da fegte Hagel eisig über die Hänge. Wieder sagte sie sich, dass sie solche Stürme schon über den See hatte fegen sehen, ehe sie sich weiterkämpfte, doch konnte sie sich an nichts erinnern, das diesem gleichkam. Von ihrem Standort aus war die große Fläche des Tolo Harbor unter einer Regendecke verborgen, die vom Meer aus hereintrieb. Es blieb keine Zeit mehr, den Hang hinunterzueilen und sich in der Mühle in Sicherheit zu bringen. Sing ließ das Grasbündel fallen, rief Rubin erneut zu, Schutz zu suchen, und kroch dann
auf allen vieren in die dichteste Vegetation und vergrub sich ins Wurzelwerk, bis es sie wie ein Käfig beschützte. Sie schlängelte sich tiefer in den dichten Stieldschungel und rief weiter nach Rubin, während der Sturm Eisregen mit der Wucht von Pistolenkugeln auf den Hang knallte.
Sie verschlang Hände und Füße mit dem Wurzelgeflecht, das sich an die Erde klammerte. Vom Sturmwind niedergedrückt, bildete das Gras ein Strohdach, lenkte den Wind ab, milderte den Angriff und hielt die volle Wucht des peitschenden Regens ab, der Welle für strömende Welle folgte.
Sie verlor jegliches Zeitgefühl, während das Unwetter den Berg überschwemmte, das niedergedrückte Tigergras durchdrang und seinen steilen Weg nach unten begann. Was als Tröpfeln begonnen hatte, entwickelte sich rasch zu einem reißenden Strom, der seinen Weg springflutartig von den höheren Hängen durch das Wurzelgewirr nach unten fand und die Erde unter sich fortschwemmte.
Je fester sie sich ans Gras klammerte, umso mehr lockerten sich dessen Wurzeln, so dass der Sog der Lawine aus Schlamm und Geröll mit jedem Moment stärker wurde. Pitschnass und durchgefroren, kämpfte Sing gegen die Flut an, tastete nach einem Anker, spürte, wie er ihren eisigen Fingern entrissen wurde. Sobald ein Halt verloren war, griff sie suchend nach dem nächsten, wurde jedoch vom herabstürzenden Schlamm aus ihrem Versteck gespült. Der steinige Grund weiter oben begann unter der gelben Schlammlawine locker zu werden.
Felsbrocken wurden freigespült - zuerst kleinere, die vor dem Erdrutsch einhersprangen, hoch und weit purzelten, als der Hang mit den Geräuschen einer Dampflokomotive, die aus ihren Schienen gerissen wurde, in ganzen Teilen abrutschte. Bäume, die seit hundert Jahren auf den Gipfeln gestanden hatten, wurden herausgerissen und zu Tal geschleudert.
Über das Heulen des Windes hinweg hörte sie jemanden ihren Namen rufen, unsicher zunächst, dann eindeutig und näher. Rubins schlammbedeckter Körper rollte von oben auf sie zu, ihr Gesicht
war blutüberströmt. Sing packte sie am Arm und hielt sie mit aller Kraft fest, spürte jedoch, wie sie ihrem Griff langsam entglitt. Rubin befand sich jetzt unter ihr, ihr Griff war schwach und ihre Hand glitschig vom Schlamm. Sing rief ihr zu, nicht nachzulassen.
Rubin blickte zu ihr empor, als wüsste sie, dass ihr Gewicht sie beide hinabzog, und ihre Lippen formten sich zu Worten, die Sing niemals hören würde. Plötzlich ließ sie los, Rubin rutschte fort und verschwand in dem Katarakt unter ihnen. Sing schrie ihren Namen, während der Wind in ihren Ohren brüllte und sie abwärts ins überflutete Tal und in die Dunkelheit stürzte.
Die Schwärze um Sing blieb, hüllte sie in ein nasskaltes Grab. Statt heulender Winde und peitschenden Regens herrschte nun tödliche Stille, die nur von langsamem Wassertröpfeln und schwachen Geräuschen wie die eines schnell schlagenden Herzens durchbrochen wurde. Wenn sie sich bewegte, durchfuhr Schmerz sie wie eine weiß glühende Klinge. Das Geräusch blieb - das Tick-Tick-Tick einer schnell gehenden Uhr, es hob und senkte sich, kam näher und zog sich dann zurück.
Sie glaubte, über große Entfernung eine Stimme zu hören, die ihren Namen rief. Sie versuchte, mit tauben Lippen zu antworten. Sie kämpfte gegen die Dunkelheit, die sie umzingelte, zwang sie zurück wie einen tödlichen unsichtbaren Geist. Langsam umkreiste er sie, wie ein heimlicher Gegner, der nach einer Schwachstelle in ihrer Verteidigung Ausschau hielt. Dann kam ein unirdisches Licht, und sie sah Ah-Keung auf sich herabblicken.
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