Die Tochter der Konkubine
Jenseits. Nachdem sie zwei Tage und zwei Nächte schlaflos in die Gesichter tausender Menschen - tot oder lebendig - geblickt hatte, stellte Sing sich der Wahrheit und begann, ihre Trauer zu begraben.
32. KAPITEL
Rückkehr in die Villa Formosa
Nicht größer als ein paar Morgen in jede Richtung, war Stonecutters Island ein kleines Bollwerk englischer Lebensart im regen chinesischen Treiben Hongkongs, das 1860 zusammen mit der Halbinsel Kowloon an die Briten abgetreten worden war. Der Granit-Steinbruch, der der Insel ihren Namen gegeben hatte, war 1866 zum Bau eines Gefängnisses benutzt worden. Später wurde daraus ein Krankenhaus zur Isolation von Pocken - und Cholerakranken.
Abgesehen von diesem düsteren Andenken an die Vergangenheit war die Insel in ein Schutzgebiet für Laubbäume umgewandelt worden, erfüllt vom Gesang der Misteldrosseln und Amseln, die hundert Jahre zuvor von heimwehkranken Exilanten gezüchtet worden waren.
Am Fuße eines hohen Berges, den jemand »Wuthering Heights« getauft hatte, lebte eine elitäre Gemeinde, die hauptsächlich aus hochrangigen britischen Beamten und ihren Familien bestand. Bis auf die Tag und Nacht fahrenden Wassertaxis und die offizielle Stonecutters-Fähre mit einem festen Fahrplan vom restlichen Hongkong abgeschnitten, wurden die beiden Anlegestellen der Insel von einem Aufgebot aus Sikh-Polizisten gut bewacht.
Die Aussicht, die englische Dame kennenzulernen, die ihre Eltern so gut gekannt hatte, erfüllte Sing mit Vorfreude, machte sie aber auch seltsam nervös. Nachdem sie sich einen Tag und eine Nacht lang in einem kleinen, gemütlichen Hotel, das einem Freund Tobys gehörte, ausgeruht hatte, hatte sie das Baumwollkleid aus seiner Schachtel geholt. Darunter, in separatem Seidenpapier, befanden sich zwei Garnituren duftiger, weißer Unterwäsche, so schön
zu berühren und anzuschauen wie das cremefarbene Kleid, das mit blassrosa Rosen bedruckt war. Der breite, rote Gürtel betonte ihre schmale Taille, die Schuhe passten wie angegossen, machten sie fünf Zentimeter größer und verliehen ihren Hüften einen ganz leichten Schwung. Sie hatte ihr kastanienbraunes Haar gewaschen und so frisiert, dass es nun in langen, weichen Locken über ihre Schultern hing. Den leichten Strohhut band sie locker unter dem Kinn zusammen.
Toby saß im Foyer und trank gerade Kaffee, als sie erschien. Der Ausdruck in seinen Augen ließ sie vor Freude erröten. »Noch nie in meinem Leben habe ich etwas Bezaubernderes gesehen«, hauchte er.
Sie nahmen dieselbe Motorbarkasse, die sie schon auf der Suche nach Indie da Silva benutzt hatten, diesmal mit einem uniformierten Steuermann am Steuer. In seiner cremefarbenen Hose, einem Polohemd in derselben Farbe und seinem Regimentsblazer sah Toby in Sings Augen umwerfend aus. Er reichte Sing das Tanka-Tragetuch, das er für sie aufbewahrt hatte. »Ich dachte, du würdest Miss Bramble vielleicht ein paar von deinen Sachen zeigen wollen.«
Vor Toby wurde zackig salutiert, als sie am Landekai von Bord gingen und den Wagen bestiegen, einen alten Bentley, der sie abholen sollte.
Winifreds Brambles Bungalow, The Elms, war groß und geräumig, um die Jahrhundertwende von jemandem gebaut, der einen Hauch von ländlichem England in ein fremdes Land bringen wollte. Sein breites Eingangstor wurde von zwei hohen Ulmen flankiert, in seinen Gärten befanden sich sowohl üppige Rhododendrenpflanzungen als auch die ordentlich angelegten Blumenbeete eines englischen Anwesens.
Die Tür wurde von einer Amah in einer weißen Jacke geöffnet, die sie in das Wohnzimmer führte, das mit bequemen Möbeln vollgestellt war, die mit geblümten Stoffen bezogen waren, und an dessen Fenstersitzplatz etliche Bücher und Zeitschriften herumlagen.
Überall standen Vasen mit sorgfältig ausgesuchten Blumenarrangements.
Die Dame, die dastand und sie liebenswürdig lächelnd erwartete, war füllig, aber von aufrechter Statur und strahlte, wie Sing sofort erkannte, eine Energie aus, die viel jünger war als sie an Jahren. Sie war schick und schlicht gekleidet in einen Rock aus schottischem Tweed und eine kaffeebraune Seidenbluse und trug bis auf eine einreihige Perlenkette und Perlenohrringe keinen Schmuck. Ihr silbriges Haar war perfekt frisiert und gewellt, und ihre haselnussbraunen Augen blickten hinter der leicht getönten Brille wachsam.
Sie streckte sofort die Hände nach Sing aus, ihre Augen glänzten verdächtig. »Herzlich willkommen, meine Liebe … was für eine
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